Und wenn Sie das wären?

Die europäischen Länder igeln sich immer weiter ein, und betrachten die Flüchtlinge aus den Krisenzonen als „Eindringlinge“. Der Papst fand hierfür deutliche Worte in Marseille.

Wer heute sagt "Das Bootist voll" vergisst, dass vor nicht allzu langer Zeit auch Menschen aus Deutschland flüchten mussten. Foto: Bundesarchiv Bild 183-S69279 / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – „Die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, haben einen Namen und einen Vornamen und eine Geschichte“, sagte der Papst am letzten Wochenende in Marseille und erinnerte damit daran, dass Flucht etwas ist, das jeden treffen kann. Gerade wir als Deutsche sollten das eigentlich genau wissen, denn es ist keine hundert Jahre her, als zahllose Menschen vor den Nazis flüchten mussten und Millionen Menschen, die entweder ihre Flucht nicht erfolgreich gestalten konnten oder die Gefahr durch die Nazis unterschätzt hatten, verloren ihr Leben in den Gaskammern ihrer Mörder.

Wer heute erzählt, dass wir „Anreize schaffen, in unsere Sozialsysteme einzudringen“, der hat in seiner Schulzeit den Geschichtsunterricht geschwänzt. Niemand flüchtet, ohne dass er einen Grund dafür hat. Diese Gründe sind im Chaos der heutigen Zeit vielfältig. Kriege, Bürgerkriege, Naturkatastrophen, Hunger – all das veranlasst Menschen, ihre Heimat zu verlassen, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten. Um sich das zu verdeutlichen, sollte man sich einmal in die Lage der inzwischen über 100 Millionen Flüchtlinge weltweit versetzen, bevor man mit dümmlichen Slogans wie „Das Boot ist voll“ hausieren geht.

Den Satz hörten auch viele Juden, die nach den Pogromen in Deutschland verstanden, dass ihr Leben in Deutschland nicht mehr sicher war. Hitler-Deutschland wurde als „sicheres Herkunftsland“ betrachtet und jüdische Flüchtlinge, die es über die grüne Grenze in die Schweiz schafften, wurden von den dortigen Behörden nach Deutschland zurückgebracht, wo sie der Tod erwartete. Glaubt irgendjemand, dass jüdische Menschen freudig ihre Heimat und soziale Existenz verließen, um in fremde Sozialsysteme einzudringen?

Denken wir an Libyen, dieses gemarterte Land, wo die Menschen ihr Leben und Hab und Gut zwischen Naturkatastrophen und einem blutigen Bürgerkrieg verlieren. Stellen Sie sich vor, etwas Ähnliches würde in Deutschland passieren. Würden Sie dann in Deutschland verhungern oder erfrieren oder ertrinken, damit Sie ja nicht anderen Menschen in anderen Ländern durch Ihre Anwesenheit auf die Nerven gehen? Oder würden Sie versuchen, Ihr Leben und das Ihrer Familie durch eine Flucht zu retten?

Stellen Sie sich vor, Sie wären homosexuell in einem Land, in dem Ihnen dafür die Todesstrafe droht, wie beispielsweise Uganda. Vergessen Sie dabei nicht, dass Homosexualität in Deutschland bis in die 70er Jahre mit Gefängnisstrafen bedroht war. Was also tun Sie in einer solchen Situation? Abwarten, bis Sie ein Nachbar denunziert und Sie nach einem entwürdigen Verfahren zum Tode oder einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt werden? Oder würden Sie in einer solchen Situation schweren Herzens Ihr Land, Ihre Freunde und Ihre Familie verlassen und versuchen, anderswo zu überleben? Was bitteschön hat das mit dem „Eindringen in fremde Sozialsysteme“ zu tun?

Seltsamerweise verstehen wir das Konzept „Flucht“ problemlos, wenn es um Flüchtlinge aus der Ukraine geht. Deren Land wurde von Russland angegriffen und um ihr Leben zu retten, sind mittlerweile eine Million ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen worden und das ist auch sehr gut so. Wenn es um ukrainische Flüchtlinge geht, kommt kaum jemand auf die Idee ihnen vorzuwerfen, sie wollten von unseren Sozialsystemen profitieren. Bei Flüchtlingen aus Syrien ist das schon etwas ganz anderes. Zwar fliehen viele Syrier vor den gleichen russischen Bomben wie die Menschen aus der Ukraine, doch stehen Syrer unter dem Generalverdacht, sich bei uns einen schönen Lenz machen zu wollen. Dass dieser alltägliche Rassismus an der eigentlichen Problematik vorbeigeht, wollen viele nicht erkennen.

Stellen Sie sich vor, ein Krieg zwischen Bayern und Thüringen bricht aus und die Menschen im dortigen Grenzgebiet verlieren bei Bombenangriffen ihre Häuser, Familienmitglieder, Arbeit und Existenz. Würden Sie dann verstehen, wenn Hessen seine Grenze zu diesen beiden Bundesländern mit dem Hinweis schließen würde, dass das Boot voll sei und die Menschen sich doch lieber in der Heimat umbringen lassen sollen?

Oder stellen Sie sich vor, dass der Klimawandel durch den Anstieg der Meeresspiegel große Teile Norddeutschlands, der Niederlande, Belgiens und Frankreichs unter Wasser setzt und unbewohnbar macht. Dies ist übrigens ein Szenario, dass Wissenschaftler ab 2050 für absolut realistisch halten. Fänden Sie es dann richtig, würden die höher liegenden Alpen-Länder ihre Grenzen für Flüchtlinge aus diesen Regionen schließen und ihnen den Zutritt zu sicheren Orten verbieten? Mit dem Hinweis, man könne sich doch nicht um das ganze Elend dieser Welt kümmern?

Die aktuelle Flüchtlingsdebatte zeigt, dass wir völlig den Kompass verloren haben. Wir ziehen es heute vor, im Interesse der Aktionäre der Rüstungsindustrie Milliarden in Kriege zu pumpen, statt das Elend dieser Welt zu bekämpfen. Und jedem, der heute „Das Boot ist voll“ vor sich hin sabbert, kann man nur wünschen, dass er eines Tages in eine Lage gerät, in der er sein friedliches Leben in den eigenen vier Wänden mit drei warmen Mahlzeiten am Tag so nicht weiterführen kann. Vielleicht versteht man es dann besser, was heute auf der Welt passiert.

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