Und wo bleibt die deutsche Stimme für Straßburg?

Während Frankreich einen einsamen Kampf für den Verbleib des Europäischen Parlaments in Straßburg führt, hält sich Deutschland weitgehend zu dieser Frage bedeckt.

Es wäre höchste Zeit, dass sich auch deutsche Politiker für den Parlamentssitz Strasbourg engagieren. Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Deutschland hat seine Geschichte vergessen. Doch sollte man sich erinnern – Anfang der 50er Jahre, ein paar Jahre nur nach dem mörderischen II. Weltkrieg, reichte Europa Deutschland die Hand. Der Prozess der Aussöhnung hatte begonnen, basierend auf der Überzeugung des großen Europäers Charles De Gaulle, dass man keine Zukunft Europas ohne Deutschland planen könne. Die Ansiedlung erster europäischer Institutionen in Straßburg, an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland, öffnete den Weg zur Wiedereingliederung Deutschlands in die europäische Familie. Doch das scheinen die deutschen Europaabgeordneten geflissentlich vergessen zu haben, denn heute halten sie sich zu der Frage des Sitzes des Parlaments vornehm zurück, ebenso wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel.

„Man sollte die Abgeordneten selbst entscheiden lassen, wo sie tagen wollen“, hört man an vielen Stellen. Wie bitte? Seit wann entscheiden Abgeordnete über den Sitz des Parlaments, in dem sie tagen? Stimmen die deutschen Abgeordneten etwa darüber ab, ob sie in Berlin, Frankfurt oder auf Sylt tagen wollen? Steht es den französischen Abgeordneten frei zu wählen, ob sie lieber in Paris, Nizza oder Bordeaux arbeiten wollen? Nein – es ist nicht Aufgabe der Abgeordneten, über den Sitz ihrer Parlamente zu entscheiden, schon gar nicht unter dem Druck von Lobbys, die lieber alle Institutionen an einem Ort haben wollen, wo sie besser hinter verschlossenen Türen mauscheln können.

Am Montag demonstrierten weit über 50 französische Abgeordnete vor dem verwaisten Europäischen Parlament in Straßburg, um für die Rückkehr des Parlaments an seinen vertraglich festgelegten Sitz zu demonstrieren. Normalerweise hätte zu diesem Zeitpunkt die neue Sitzungswoche beginnen sollen, die dieses Mal gleich doppelt wichtig war, da es um den durch die Pandemie stark modifizierten EU-Haushalt geht. Die Zusätze zu den Europäischen Verträgen spezifizieren ausdrücklich, dass die Plenarsitzungen zu Themen wie dem Haushalt in Straßburg stattzufinden haben. Die Tatsache, dass sich das Parlament weiterhin standhaft weigert, an seinen Sitz zurückzukehren, ist ein eindeutiger Verstoß gegen die Europäischen Verträge, ein administrativer Sündenfall, konzertiert von den Brüsseler Lobbys, denen viel daran gelegen ist, die mächtige Kommission, das Parlament und den Europäischen Rat in Sichtweite zu haben – das erleichtert den rund 30.000 Lobbyisten in Brüssel dann doch die Arbeit. Nur – das Europa, von dem wir alle träumen, ist nicht das „Europa der Lobbyisten“, sondern das demokratische Europa der Bürger und das – gibt es nur in Straßburg.

Die Parlamentarier, die in Straßburg tragen, haben alle etwas gemeinsam – sie sind von den Europäern und Europäerinnen demokratisch gewählt und nicht etwa, wie in allen anderen europäischen Institutionen, von ihren Regierungen entsandt worden.

Die deutschen Europaabgeordneten hätten gleich mehrere gute Gründe, sich für den Parlamentssitz in Straßburg zu engagieren. Neben den historischen Überlegungen, die nicht von der Hand zu weisen sind, da sich in ihnen die Geschichte unseres Kontinents seit 150 Jahren wiederspiegelt, gibt es auch ganz praktische Dinge, die man beachten sollte. So profitiert die gesamte Oberrheinregion von der europäischen Ausstrahlung Straßburgs – nicht nur, weil viele Abgeordnete gerne während der Sitzungswochen im benachbarten Baden logieren. Unverständlich, dass bei der Demonstration am Montag keine deutschen Vertreter anwesend waren, um der Forderung nach der Rückkehr des Parlaments an seinen Sitz Nachdruck zu verleihen. Wo waren die Bürgermeister der Ortenau, die Vertreter der Landratsämter und Regierungspräsidien? Die Grenze für solche Anlässe zu überqueren ist für Mandatsträger unproblematisch, weswegen die Pandemie als Entschuldigung nicht zählt.

Die deutschen Partner am Oberrhein, aber auch in Stuttgart und Berlin begehen einen schweren Fehler, wenn sie meinen, dass sie die Frage des Parlamentssitzes nichts angeht. Ein Wegzug des Parlaments nach Brüssel wäre nicht nur ein Anschlag auf die europäische Demokratie, sondern auch ein herber Verlust für die ganze Oberrhein-Region, der Arbeitsplätze und Lebensqualität kosten würde.

Heute fahren viele deutsche Schulklassen (unter nicht-Pandemie-Bedingungen) auf Klassenfahrt nach Straßburg. Sollte das Parlament wegziehen, sollte sich niemand der Illusion hingeben, dass diese Schulklassen weiter nach Straßburg kämen, um in einer „ehemaligen Europahauptstadt“ die Trostpflaster anzuschauen, die Brüssel bereit wäre, Straßburg zuzugestehen.

Die deutschen Abgeordneten, auf allen Ebenen von lokal bis Europa, sollten sich gefälligst für den Parlamentssitz Straßburg einsetzen und somit das demokratische Gegenstück zum „korrupten“ Brüssel stärken. Man kann nicht gleichzeitig vom „Europa der Bürger“ schwafeln und sich parallel dafür einsetzen, dass die europäische Politik in die Hände wirtschaftlicher Interessensverbände gelegt wird.

Die Forderung nach einem „Single Seat“ des Parlaments ist richtig und wichtig. Aber wir haben bereits einen „Single Seat“ und der befindet sich in Straßburg. Es wäre höchste Zeit, dass sich auch die deutschen Politiker daran erinnern und ihren Sonntagsreden ein klein wenig Inhalt zufügen – die Verteidigung des Sitzes der einzigen demokratisch gewählten Vertretung von 500 Millionen Europäern und Europäerinnen wäre es wert.

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