Vom Schlupfloch des Ostens zum Verkehrsdrehkreuz

Der Bahnhof Friedrichstraße in Berlin hat eine erstaunliche Wandlung hinter sich. Wo früher Agenten herum schlichen, steigen heute Fahrgäste um.

Nichts deutet heute mehr an der Friedrichstraße auf die bewegte Vergangenheit dieses Bahnhofs hin. Foto: Kai Littmann

(KL) – Man merkt, dass man älter wird, wenn man selber zum “Zeitzeugen” wird. Wie bei der Durchfahrt durch den Bahnhof Friedrichstraße, der vor 30 Jahren das durchlässigste Schlupfloch zwischen Ost und West war, wo ebenso viele Geheimagenten unterwegs waren wie Fahrgäste. Hier wurde geschoben, hier wurden Menschen, Waren und Drogen zwischen Ost und West verschoben und heute erinnert eigentlich nichts mehr an die seltsame Vergangenheit dieses Bahnhofs.

Anfang der 80er Jahre ist Berlin eine Insel. West-Berlin ist eine westdeutsche Enklave, erreichbar nur über enge Transit-Korridore, die streng bewacht durch DDR-Gebiet führen – die deutsch-deutsche Grenze ist damals eine der am aufmerksamsten bewachten Grenzen der Welt. Für Westdeutsche sind die zum Teil Stunden dauernden Grenzkontrollen eine Schikane, für die allenfalls der zollfreie Einkauf in den “Intershops” an den Transitstrecken entschädigt.

Ein solcher “Intershop”, in dem westliche Waren nur gegen Westmark verkauft werden, gab es auch an der Friedrichstraße. Auf dem Weg zur Arbeit, von Kreuzberg in den Wedding, fuhr die U-Bahn ein kurzes Stück unter DDR-Gebiet hindurch. Gespenstisch. Auf den vier Bahnhöfen auf DDR-Gebiet, an denen die U-Bahn natürlich nicht halten durfte, standen in bedrückender Atmosphäre alle paar Meter Volkspolizisten mit Maschinenpistolen auf den Bahnsteigen, hinter diesen “Vopos” standen grelle Scheinwerfer, damit man die Gesichter dieser Vopos nicht erkennen konnte, so dass dort nur schwarze Schatten mit Waffe im Anschlag standen, gesichtslos, während die U-Bahn im Schritttempo an ihnen vorbei schlich. Jeden Morgen ein ungutes Gefühl, das einem auch ständig den prekären Charakter der Situation an der Schnittstelle zwischen Ost und West vor Augen führte.

Auf dem Bahnhof Friedrichstraße selbst herrschte immer hektisches Treiben. Hier wurden von staatlichen Stellen beider Seiten Menschen hin- und hergeschleust, über diesen Bahnhof überfluteten Drogenlabors in Ost-Berlin den Westen mit LSD und Heroin, um die Jugend des Westens zu korrumpieren, hier beäugten sich die Schlapphüte aus Ost und West gegenseitig.

Wer ein Tagesvisum für die DDR bekam, konnte seinen Besuch der Hauptstadt der DDR in der Friedrichstraße beginnen. Was mit einer längeren Grenzübertritts-Prozedur begann. Bei der grimmige DDR-Grenzer mit scharfem Blick mehrfach überprüften, ob das Foto im Pass auch mit der jeweiligen Person übereinstimmt. Dann der Zwangsumtausch. Harte D-Mark musste gegen Ostmark aus Plastik getauscht werden, wobei man in Ost-Berlin sowohl mit den vielen Ostmark, aber vor allem mit Westmark so ziemlich alles bekam, was das Herz begehrte.

Viele Berliner, die mit der Ost-West-U-Bahn unterwegs waren, stiegen an der Friedrichstraße kurz aus, kauften im “Intershop” Zigaretten, Kaffee und Alkohol ein und setzten dann die Fahrt in Richtig Westen fort. Dies wiederum war einfach, denn die DDR wollte ja den Fluss der Devisen in ihre Richtung nicht behindern, im Gegenteil. Doch in den U-Bahn-Zügen saßen nicht nur Geheimagenten und Arbeiter, sondern auch der westdeutsche Zoll. Und kontrollierte nach dem Bahnhof Friedrichstraße, was das Zeug hielt.

Bei den Preisen im “Intershop” (halber Preis für eine Stange Zigaretten, der Liter russischer Vodka für damals 5 Westmark), schmuggelte jeder zweite Fahrgast der U-Bahn. In den Taschen klingelten die Flaschen hell, wenn die U-Bahn über eine Schwelle fuhr und das war dann meistens das Signal, dass sich ein paar junge Männer erhoben und es “Zollkontrolle!” durch den Wagon hallte.

Kaum ein anderer Ort war symbolischer für die Realitäten des Kalten Kriegs. Man überwachte sich gegenseitig, die Kontrollen waren extrem und dennoch war dieser Bahnhof wie eine durchlässige Membran. Man stand sich mit der Waffe in der Hand gegenüber und hatte das Gefühl, dass ein Funken ausreichen würde, um das Pulverfass hochgehen zu lassen. Immerhin war die Mauer erst knapp 20 Jahre vorher gebaut worden und die Spannungen entlang der deutsch-deutschen Grenze waren fast körperlich spürbar.

Und heute? Heute ist aus der Friedrichstraße, die eine perfekte Kulisse für die Romane eines John Le Carré abgab, ein normaler, moderner Umsteigebahnhof einer europäischen Metropole. Nichts erinnert mehr an die teilweise tragischen menschlichen Schicksale, die sich hier einst entschieden. Nichts weist mehr auf die Herzschlag-Atmosphäre hin, die jeder Fahrgast dieser U-Bahn-Linie damals verspürte, wenn sich der Zug durch die gespenstischen und menschenleeren U-Bahnhöfe schob oder in der Friedrichstraße einlief.

Auch an diese “kleinen” Begebenheiten des Kalten Kriegs sollte man denken, wenn man heute den Kalten Krieg 3.0 beginnt. Und sich vielleicht auch daran erinnern, dass kein Unrecht ewig dauert. Dass kein repressives System ewig dauert. Dass nicht einmal ein totalitärer Staat auf Dauer ein ganzes Volk unterdrücken kann.

Heute, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, wäre es wieder einmal an der Zeit, dass sich die Völker Europas ihrer Stärke und Solidarität erinnern, statt ihre Zukunft den Volksverführern und Hasspredigern zu überlassen. Auch dafür steht der Bahnhof Friedrichstraße – als Symbol für die Überwindung von Hass und Dummheit.

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