Von Vorderösterreich nach Halbfrankreich

Heute vor 250 Jahren, als Freiburg noch bei Österreich war, traf Marie-Antoinette aus Baden kommend in Straßburg ein. Aus der Habsburger Prinzessin wurde die zukünftige Königin von Frankreich, ein europäisches Staatsereignis ersten Ranges – Goethe war für uns dabei.

250 Jahre ist es her, dass aus Maria-Antonia Marie-Antoinette wurde. Und das zwischen Kehl und Strasbourg! Foto: privat / PD

(Von Michael Magercord) – Wer auf historische Ereignisse zurückblickt, fragt sich unwillkürlich, was eigentlich die großen historischen Momente waren, an denen man selbst zugegen war? Sind historische Ereignisse eigentlich immer jene, die man schon als Zeitgenosse als solche wahrnehmen konnte? Und wenn es dann doch eine große Inszenierung war, die als Ereignis daherkam: Wie weit konnte man aus ihrem Verlauf  vorausahnen, was sich daraus einmal ergeben würde? Und weil sich ja vielleicht gerade viele von uns, wenn auch im totalen Stillstand, als Teilnehmer eines historischen Ereignisses wähnen, gönnen wir uns das Vergnügen, einen Blick auf ein vor langer Zeit stattgefundenes Ereignis mithilfe der Aussagen eines vorausblickenden Rückblickers zu wagen.

Goethe war dabei. 1770 nämlich, als die 14-jährige Habsburgerin Maria-Antonia auf ihrer Brautfahrt nach Frankreich zum ersten Mal französischen Boden betrat, und zwar auf einer Rheininsel zwischen Kehl und Straßburg. Ihr Zukünftiger war der Königssohn Ludwig, der zukünftige XVI. seiner Sorte. Bourbon und Habsburg – die Ankunft wurde gefeiert als die Verbindung zwischen den beiden bestimmenden Dynastien in Kontinentaleuropa, alles für den Frieden. Daraus wurde bekanntermaßen nichts, weil schon wenige Jahre später ganz andere Kräfte die Politik bestimmen werden, als die Gelüste der Könige und Königinnen.

Als die Kaiserin Maria-Theresia ihre Tochter gen Frankreich auf den Weg schickte, gab sie ihr noch diesen Ratschlag mit auf den Weg: „Seien Sie nicht neugierig; das ist ein Punkt, den ich besonders bei Ihnen befürchte. Vermeiden Sie jede Art von Vertraulichkeit mit kleinen Leuten.“ Ob sie ihn allzu sehr beherzigt hatte? Einer kolportierten Legende zufolge gab Marie-Antoinette ja in einer der vielen vorrevolutionären Teuerungs- und Hungerzeiten ihren Untertanen den hochmütigen Ratschlag, statt des unerschwinglichen Brotes doch Kuchen zu essen. Aber als dieser Ausspruch als der ihre zirkulierte, war es ja sowieso schon zu spät, die Krone war nicht mehr zu retten, trotz allem Pomp und Gloria.

Also zurück zu unserem Straßburger Studiosus Goethe. Der war, obwohl es ihn eigentlich zum Studium nach Göttingen gezogen hätte, von seinem Vater zunächst nach Leipzig und zum Examen schließlich ins – Originalton Johann Wolfgang von Goethe – „elsässische Halbfrankreich“ gesandt. Neunzig Jahre war Straßburg schon zugehörig zum Reich der Bourbonen-Könige, für die die Erweiterung ihres Herrschaftsgebietes nicht mehr war als genau das: Erweiterung ihres Gebietes. Die nationale Frage stellte sich erst später und allzu französisch ging es wohl im Elsass noch nicht zu. Immerhin konnte der fidele Student Goethe trotzdem schon von dem zartesten aller Anklänge der Mischkultur profitieren: Der Putz der Mädchen hatte es ihm angetan. Was nämlich ihren Anblick erfreulicher mache als anderswo, sind „die verschiedenen Trachten des weiblichen Geschlechts.“

Und nun also dieses große, wenn man so will, deutsch-französische Ereignis. „Eine merkwürdige Staatsbegebenheit setzte alles in Bewegung und verschaffte uns eine ziemliche Reihe Feiertage“, notierte Goethe. Ein bleibendes Erlebnis, als der Glaswagen mit der Erzherzogin an ihm vorbeifuhr: „Der schönen und vornehmen, so heiteren als imposanten Miene dieser jungen Dame erinnere ich mich noch recht wohl.“ Ihr Tross mit 235 Begleitpersonen in 57 meist sechsspännigen Kutschen war von Wien aus bereits durch viele Städtchen gezogen, jedes Mal gab es ein Spektakel. Es war ein wenig, wie heute eine Olympiade. Wollte ein Ort die Ehre der hoheitlichen Übernachtung haben, mussten sie ihn herrichten: Straßen erneuern, Quartiere und Pferde bereithalten, Ehrenpforten errichten, und Tanz und Theater für die Hofgesellschaft organisieren.

Straßburg hat sich ganz besonders herausgeputzt und sogar die Spitze des Münsters mit Feuer illuminiert, war der Grenzort für die junge Frau doch auch eine ganz besondere Etappe auf dem Weg nach Paris. Am 7. Mai musste sie sich in dem auf einer unbewohnten Rheininsel extra errichteten östlichen Pavillon entkleiden, nackt hinübergehen zum westlichen Teil des Prunkgebäudes, wo sie neu eingekleidet wurde. Voila, der Umzug von einer Dynastie in die andere war symbolisch vollzogen. Die Räume des Pavillons waren mit Wandteppichen geschmückt, auch darauf ging es symbolisch zu, wie uns Goethe berichtet. Denn er konnte ihn zuvor bereits besuchen und eine dieser Tapisserien zeigte die Vermählung des mythischen Gruselpaares Jason und Medea. Der junge, oft aufs Heftigste verliebte Mann, zürnte: „Ist es erlaubt, einer jungen Königin das Beispiel der grässlichsten Hochzeit, die vielleicht jemals vollzogen worden, bei dem ersten Schritt in ihr Land so unbesonnen vors Auge zu bringen?“ Er sah darin ein böses Omen auf die dann auch entsprechend grässliche und lieblose Ehe, die ihr nun bevorstand.

Die junge Dame traf vor dem Straßburger Münster dann auch noch auf den jungen Geistlichen Prinz Louis Rohan, jenen Mann also, dem sie 15 Jahre später die sogenannte „Halsbandaffäre“ verdankte – der Skandal, der als Zeichen dafür stand, dass es mit der Monarchie endgültig zu Ende ging. Die Zeit dazwischen verlief fast wie vorausgesagt, aus dem unglücklichen Mädchen, wurde eine unbedenklich feierfreudige Verschwenderin, die schließlich unter der Guillotine ihr kaum vierzigjähriges Leben beschließen sollte.

War’s das? Sollte so eine Geschichte, die schon Historie war, als unser Zeitzeuge seine Erlebnisse bald vierzig Jahre später niederschrieb, nicht auch noch für uns eine Moral parat halten? In Zeiten, wo man doch immer glaubte, sich auf ihrer Höhe zu befinden, in der man aus der Überinszenierung nicht mehr herauskam, keine Millionen zu viel waren, um zum Brot die Spiele zu liefern – lassen sich darin nicht schon die kleinen Zeichen finden, die den späteren bevorstehenden Untergang und eine Zeitenwende andeuten? Und nach Möglichkeit noch bevor die großen Zeichen auftauchen und es für jede Umsteuerung bereits zu spät ist. Ob das Auftreten des Coronavirus nun kleines oder doch schon ein großes ist: ein Zeichen ist es auf jeden Fall – möge man es richtig und rechtzeitig deuten, um schließlich nicht ganz nackt vor der Geschichte dazustehen.

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