Vor dem Auseinanderbrechen: Wird Europa das Jahr 2017 politisch überstehen?

„Brexit“ in Großbritannien, „Grexit“ in Griechenland, unfähige Verantwortliche - soll man dieses Europa, den Erfüllungsgehilfen der Finanzmärkte, wirklich retten?

Wir würden uns ja alle ein besseres Europa wünschen. Doch dazu haben wir leider nicht das richtige Personal. Foto: Claude Truong-Ngoc / Eurojournalist(e)

(KL) – 2017 könnte die Europäische Union endgültig auseinanderbrechen. Zumindest dann, wenn David Cameron die Wahlen in Großbritannien gewinnen sollte – denn dann muss er 2017 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU organisieren. Also zu einer Zeit, in der es immer schwerer sein wird, noch eine positive Grundhaltung zu diesem einstmals großartigen Konstrukt zu behalten, das von unfähigen und korrupten Politikern und Lobbys zugrunde gerichtet wird. Doch könnte die Implosion Europas auch schon früher erfolgen – nämlich dann, wenn die EU Griechenland die Gurgel zugedrückt haben wird, um das Land in ein nicht enden wollendes Elend zu stürzen.

Lohnt es sich noch, für Europa zu kämpfen? Vor einiger Zeit wäre die Antwort noch ein entrüstetes „Ja, natürlich!“ gewesen. Heute muss man schon über seine Antwort nachdenken. Denn Europa ist zu einer mörderischen Veranstaltung geworden, die systematisch die Schwächsten der Schwachen opfert, um den Stärksten der Starken ein angenehmes Leben zu garantieren. Was die Gründungsväter Europas sicher nicht so geplant hatten. „Frieden und Wohlstand“ wollten die Gasparinis, die Churchills und die Schumans, aber nicht nur für eine Handvoll zynischer und zockender Investmentbanker, sondern für die Völker Europas – die inzwischen im institutionellen Europa niemanden mehr interessieren. Wer keine finanz- und schlagkräftige Lobby hat, der nimmt an Europa nicht mehr teil.

Trotz aller Krokodilstränen nach den schrecklichen Ereignissen im Mittelmeer haben diejenigen, die den Tod Tausender Flüchtlinge zu verantworten haben, immer noch nicht begriffen, worum es geht. Sie wollen mit militärischen Mitteln die kriminellen Schlepperbanden bekämpfen, deren Geschäftsmodell sie selber erst erschaffen haben, indem sie eine legale Einreise in die EU für die Ärmsten der Armen faktisch unmöglich gemacht haben. Kann man ein solches Europa noch wollen? Ein Europa, das Menschen zum Tode verurteilt, weil sie das Pech hatten, in einem Teil der Welt geboren zu werden, der Jahrhunderte lang von europäischen Kolonialisten ausgebeutet wurde und wo heute mit unserer Duldung Diktatoren herrschen, die blutig jeden und jede verfolgen, der es wagt, anderer Meinung zu sein? Und wenn die Menschen aus solchen Systemen, in denen sie Verfolgung, Terror, Krieg und religiösem Fanatismus ausgesetzt sind, versuchen ihr Leben zu retten, dann macht Europa die Tür zu und will einen Kreuzzug gegen diejenigen starten, die ein widerliches Geschäft daraus gemacht haben, genau diese Menschen durch die verschlossenen Grenzen zu schleusen. Wollen wir dieses Europa?

In den südlichen EU-Mitgliedsstaaten sieht es nur ein wenig besser aus. In Ländern wie Griechenland, Spanien oder Portugal gibt es Menschen, die hungern. Es gibt dort Menschen, die sterben, weil sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Selbst im reichen Deutschland leben Millionen Menschen unter der Armutsgrenze – zwar unter Bedingungen, von denen mancher Grieche nur träumen kann, aber dennoch ausgegrenzt von der Gesellschaft. Wollen wir wirklich dieses Europa?

In vielen Ländern Europas haben große Teile der Jugend keine Perspektive mehr. Mangelhafte Ausbildung, Arbeitslosigkeit, trostlose Vorstädte – ist das Europa? Dafür haben wir aber blendend bezahlte EU-Beamte, die sich zwar vornehm aus allen wichtigen humanitären Fragen heraushalten, dafür aber die Maschengröße der Netze portugiesischer Muschelfischer in lange tagenden Kommissionen festlegen – ist das Europa?

Die Gräben zwischen diesem Europa und dem Europa des Friedens, der gemeinsamen Werte, der gemeinsamen Sicherheit, sind inzwischen kaum noch überbrückbar. Wie denn auch? Das institutionelle Europa hinterfragt sich nicht, sondern läuft mit festem Schritt unaufhaltsam in Richtung Abgrund.

Vielleicht wäre ja ein „Brexit“ oder ein „Grexit“ gar nicht so schlecht für Europa – denn wenn das aktuelle Europa implodiert, bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, als gemeinsam über ein neues Europa nachzudenken. Über ein Europa, das auf Menschen und nicht auf Lobbys, das auf Werte und nicht auf blinde Gewinnmaximierung, das auf soziale Belange und nicht auf den Vorteil weniger ausgerichtet ist. Wahrscheinlicher ist aber, dass nach der Implosion der EU ein neues Zeitalter der Nationalstaaten anbricht – und sich Europa dorthin zurück entwickelt, wo es im ausgehenden Mittelalter schon einmal stand. Mit beiden Beinen im Blut seiner Bürgerinnen und Bürger.

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