Wahlen in Großbritannien: „Die spinnen, die Briten“

Neun politikwissenschaftliche Hinweise zu den Besonderheiten des Wahlsystems bei den Unterhauswahlen in Großbritannien am 7. Mai 2015.

Wohin nur marschieren die Briten? Etwa 'raus aus der EU? Foto: Aeggy / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(Von Dr. Michael Wehner) – Am 7. Mai 2015 wählen die Briten ihr Parlament. Allerdings sind Wahlen in Großbritannien nicht das Gleiche wie Wahlen in anderen europäischen Ländern. Faktencheck von Dr. Michael Wehner, dem Chef der Landesanstalt für Politische Bildung in Freiburg.

1. Gerecht oder ungerecht (für wen?): am Mehrheitswahlrecht Großbritanniens scheiden sich die Geister. Wer in Großbritannien zur Wahl gehen will, muss sich zuvor (mittlerweile auch online) registrieren. Die Wahlbeteiligung lag 2010 bei 65,1 %. Großbritannien wählt in 650 Einpersonen-Wahlkreisen nach relativer Mehrheitswahl. Gewählt ist derjenige mit den meisten Stimmen (first past the post-, winner takes it all-Prinzip). Auf andere Kandidaten abgegebene Stimmen werden nicht berücksichtigt.

Das eindrucksvollste Beispiel stammt aus dem Jahr 1987. Im Wahlkreis Stockton South kam es zu folgender Stimmverteilung: Ian Wrigglesworth (SDP): 20.059 Stimmen. Timothy Devlin (Konservative): 20.833 Stimmen, John Scott (Labour Party) – 18.600 Stimmen. Der Kandidat der Konservativen, Devlin, erhielt die meisten Stimmen und zog ins Unterhaus ein. Nahezu zwei Drittel aller Stimmen blieben also unberücksichtigt. Relative Mehrheitswahl gibt es z.B. auch in den USA, Kanada, Indien, Malaysia, Kenia oder Jamaika. Die Bundestagswahl hingegen ist eine Verhältniswahl, bei der auch die für andere Parteien abgegebenen Stimmen bei der Sitzverteilung berücksichtigt werden. Für beide Verfahren gibt es gute Gründe. Die relative Mehrheitswahl hat einen mehrheitsbildenden Effekt. Dies führte in der Vergangenheit zu stabilen Regierungsmehrheiten.

2. Der Wahlverlierer kann die Wahl gewinnen (Bias = Mehrheitsumkehr). Zuletzt 1974 (nach 1929 und 1951) erhielt die nach Stimmen zweitstärkste Partei die meisten Unterhaussitze. Die Labour-Partei bekam mit 37,1% der Stimmen 47,4% der Mandate, die Konservativen mussten dagegen mit 37,9% der Stimmen und nur 46,8% der Mandate auf den Oppositionsbänken Platz nehmen.

3. Nicht jede Stimme zählt gleich viel. Alle 650 Wahlkreise sollen mit Abweichungen von +/- 25 % der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis in etwa gleich groß sein. Eine Kommission überprüft in einem Abstand von 10-15 Jahren die Wahlkreiseinteilung anhand der jeweiligen Bevölkerungszahlen. Den einzelnen Landesteilen wird jedoch eine Mindestzahl an Parlamentssitzen garantiert. So sind im Unterhaus derzeit 533 Abgeordnete aus England, 59 aus Schottland, 40 aus Wales und 18 aus Nordirland vertreten. Diese Quotenregelung verhindert einen gerechten Zuschnitt von Wahlkreisen nach Bevölkerungsgleichheit. Pointiert formuliert: Ähnlich wie bei den Europawahlen und nicht in dieser Deutlichkeit: Aber auch in Großbritannien zählt nicht jede Stimme gleich viel. So vertrat ein Abgeordneter aus Wales „nur“ 56.628 Wahlberechtigte, während sein englischer Kollege für 71.857 Wahlberechtigte Verantwortung zu übernehmen hatte.

4. Nach den Wahlen wird es einmal mehr Diskussionen über eine Reform des Wahlrechts geben. Bei der letzten Unterhauswahl wählte mehr als jeder Vierte nicht die beiden großen Parteien. Ihre Nichtberücksichtigung durch das Wahlsystem führt immer wieder zu Diskussionen und zur Frage „fairer“ Repräsentation. Knapp 2/3 der Briten stimmten 2010 für die beiden großen Parteien, aber zusammen nahmen Tory und Labour 87 % der Parlamentssitze ein. Außerdem gewann 1997 und 2001 z.B. die Labour Partei mit 43,2 bzw. 40,7 % der Stimmen 63,4 % bzw. 62,5 % der Sitze. Wenn also weniger als 40 % der Wähler sich gegenüber den restlichen 60 % und mehr durchsetzen können, ist das nicht nur eine Verzerrung der Repräsentation, sondern eine Frage elementarer Bürgerrechte (Nohlen 2014, 341f). Darüber hinaus findet in dominanten Parteihochburgen kein Wahlkampf mehr statt. Die Aussichten des Gegners den Wahlkreis „zu drehen“ und die Mehrheit zu erringen, sind zu gering. Die Entpolitisierung des Wahlkreises ist die Folge. Mehr und mehr finden sich auch in Großbritannien Anhänger für ein Verhältniswahlrecht wie es bei den Europawahlen sowie den Regionalwahlen in Schottland und Wales bereits Anwendung findet. Die Änderung des Wahlsystems ist aber von so historischer Bedeutung, dass eine Volksabstimmung darüber politisch notwendig und sinnvoll wäre. Bereits 2011 wurde vom Volk eine Änderung des Wahlrechts mit einer Mehrheit von fast 70 % abgelehnt.

5. Die relative Mehrheitswahl führt entgegen einer weitverbreiteten Meinung nicht automatisch zu einem Zweiparteiensystem und zu eindeutigen Parlamentsmehrheiten. Dies wird sich auch 2015 besonders zeigen. Bereits im letzten Unterhaus waren bereits 12 unterschiedliche Parteien vertreten, wenn auch nur mit wenigen Parlamentssitzen (z.B. die Grünen mit einem Mandat, der Democratic Unionist Party mit 8 oder die Sinn Féin Partei mit 5 Sitzen). Die Liberaldemokraten und ihre Vorgängerparteien waren von 1922-2015 die drittstärkste Kraft im Parlament. Das bisherige 2 ½-Parteiensystem könnte mittelfristig aufgrund des Erstarkens von UKIP und SNP zu einem 4 ½- Parteiensystem werden.

6. Es ist davon auszugehen, dass die Wahlen 2015 keiner der beiden großen Parteien eine Regierungsmehrheit beschert. Zum ersten Mal seit 80 Jahren stellt sich eine Regierungskoalition aus Konservativen und Liberaldemokraten zur (Wieder-)Wahl. Die Regierungsbildung wird durch die Stärkung regionaler Drittparteien und notwendiger Koalitionsbildung in einem „hung parliament“ erschwert. Eine Minderheitsregierung (z.B. der Labour Partei mit Tolerierung durch die schottischen Nationalisten SNP) nach diesen Wahlen kann nicht ausgeschlossen werden. Die beiden großen Parteien haben nun – drei Wochen vor der Wahl – ihre Wahlprogramme vorgestellt und wollen die „Mitte gewinnen“: Labour will ihr Image als Schuldenpartei loswerden und gibt sich geradezu sparsam. Die Tories zeigen sich plötzlich von der „mitfühlenden“ und sozialen Seite und versprechen Gratis-Kindergartenplätze, den Erhalt des nationalen Gesundheitsdienstes und ein Subventionsprogramm zum Kauf von Sozialwohnungen. Doch die kleinen Parteien Liberaldemokraten, SNP und UKIP könnten zu „Königsmachern“ werden.

7. Die englischen Unterhauswahlen sind ein weiterer Indikator, inwieweit populistische und europakritische Parteien in den einzelnen Ländern weitere Akzeptanz auf den nationalen Wählermärkten finden. Während die UKIP (United Kingdom Independence Party) bei den Unterhauswahlen 2010 nur 3,1 % der Stimmen erhielt, wurde sie bei den letzten Europawahlen 2014 mit 28 % der Stimmen in Großbritannien die stärkste Partei. Die aktuellen Umfragen sehen die UKIP derzeit bei ca. 15 %. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts wird es ihr aber kaum gelingen, mehr als 3-5 Mandate zu gewinnen.

8. Das relative Mehrheitswahlrecht begünstigt Regionalparteien wie z.B. die walisische Plaid Cymru und fördert mit seiner regionalistischen Wirkung damit a la longue Abspaltungs- und Auflösungstendenzen. Kleine Parteien mit einer über das ganze Land verteilten Wählerschaft sind dagegen benachteiligt. Infolge des gescheiterten Referendums wird die schottische Nationalpartei SNP (Scottish National Party) so gut wie nie zuvor in ihrer Geschichte abschneiden (statt bislang 6 könnte sie bis zu 50 der 59 schottischen Sitze gewinnen). Die Labour Party, die bisher stets klar die Mehrheit der Wahlkreise in Schottland gewann, verliert in Umfragen kräftig. Sollte die SNP die Mehrheit der schottischen Stimmen auf sich vereinen, wird die Föderalisierung des Vereinigten Königreichs erneut auf der Tagesordnung der britischen Politik stehen. Gewinnt die Conservative Party die Wahl, werden die Schotten sich von der Union abwenden. Wird eine Labour-Minderheitsregierung von den schottischen Nationalisten toleriert, werden viele Briten diese fremdbestimmte Regierung ablehnen. Die Einheit des United Kingdom steht auf dem Spiel.

9. Bricht UK auseinander? Sowohl die innere Einheit des UK als auch die Zugehörigkeit zur EU sind derzeit akut gefährdet. Beide Problemkreise stehen in einer engen Beziehung zueinander. Ein Austritt des UK aus der EU nach einem Referendum (bei Befürwortung der EU in Schottland) würde eine dramatische Staats- und Verfassungskrise hervorrufen und zwangsläufig zum endgültigen Zerfall des UK führen. Dies wäre auch ein neues Kapitel in der Geschichte Europas. Nie zuvor entschied sich ein Land, aus der EU auszutreten. Die durch die Schuldenkrise gebeutelte EU würde weiter destabilisiert werden.

Der Autor Dr. Michael Wehner leitet die Landeszentrale für politische Bildung, Baden-Württemberg, Außenstelle Freiburg. Informationen über die Arbeit der lbp-bw finden Sie, wenn Sie HIER KLICKEN.

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