Warum eigentlich Brüssel?

Die September-Sitzungswoche des Europäischen Parlaments in Straßburg fällt aus, bereits zum sechsten Mal im Jahr 2020. Dabei gehören ganz Belgien und Brüssel zu den Covid-Hotspots.

Wackelt das Europäische Parlament in Strasbourg? Man könnte fast den Eindruck bekommen... Foto: Zairon / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Langsam, aber sicher, verschwindet das Europäische Parlament aus Straßburg. Entgegen der Europäischen Verträge setzt sich nun die Macht des Faktischen durch – das Parlament kommt einfach nicht mehr nach Straßburg. Sanitäre Gründe können es kaum sein, die für diese neuerliche Verlegung der Sitzungswoche nach Brüssel sprechen – Brüssel ist, unter sanitären Gesichtspunkten, keinen Deut sicherer als Straßburg. Versucht man gerade die Gunst der Stunde zu nutzen und den Parlamentssitz Straßburg auszubooten?

Wer erinnert sich noch an die letzte Sitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg? Mehr als ein halbes Jahr ist es her, dass die Europaabgeordneten den Weg zum vertraglich festgeschrieben Sitz des Parlaments nach Straßburg gefunden haben. Die Sitzungen in Brüssel, bei denen jeweils ein paar Abgeordnete im Sitzungssaal sitzen und die anderen per Video zugeschaltet sind, könnten in diesem Format genauso gut in Straßburg stattfinden. Aber das tun sie nicht.

Zusätzlich zu allen anderen Krisen stolpert Straßburg nun auch noch, ausgerechnet, in eine Europa-Krise. Ist das der zukünftige Deal? Straßburg behält den Europarat (keine schlechte Idee, dass wenigstens die effizienteste der europäischen Institutionen in Straßburg bleibt…) und Brüssel übernimmt ganz Europa? Damit Kommission, Europäischer Rat (der etwas ganz anderes als der Europarat ist…) und Parlament schön hinter verschlossenen Türen kungeln können? In der Hauptstadt der Lobbyisten und Vertreter der Industrien, die in Brüssel tun und lassen können, was sie wollen? Ist das die künftige demokratische Gewaltenteilung Europas? Sollte dem so sein, dürften die Tage der immer wieder gefeierten „europäischen Demokratie“ gezählt sein. Falls sie das nicht ohnehin schon sind.

Was für Vorteile bietet Brüssel momentan? Sanitäre Vorteile? Sicherlich nicht. Belgien ist proportional das am härtesten vom Coronavirus betroffene Land. In Brüssel herrschen strengste Hygiene-Maßnahmen, inklusive Gesichtsmaske im Freien, nördlich von Brüssel liegt die megarote Provinz Antwerpen – also sanitäre Gründe können es schon mal nicht sein. Straßburg ist zwar auch wieder im roten Bereich, aber ist das ein Grund, die Europäischen Verträge außer Kraft zu setzen? Im Parlament spricht man von „Kompensationen“ für die letzten sechs Sitzungswochen, die nicht in Straßburg stattgefunden haben, aber was soll die Diskussion? Nicht Brüssel ist der Sitz des Europäischen Parlaments, sondern Straßburg.

Steckt hinter der erneuten Absage das Einknicken von Parlamentspräsident David Maria Sassoli vor den zahlreichen Straßburg-Gegnern im Parlament? Diese sind, wie verschiedene Probe-Abstimmungen gezeigt haben, mehrheitlich für einen Parlamentssitz in Brüssel. Peinlicherweise zählen viele deutsche Abgeordnete zu den Brüssel-Befürwortern, dabei sollten sich gerade deutsche Abgeordnete der Bedeutung Straßburgs für die Wiedereingliederung Deutschland in die europäische Völkerfamilie bewusst sein. Im Grunde ist nur noch die konservative EPP geschlossen für Straßburg, bereits bei den Liberalen bröckelt es und in den linken Fraktionen ist man klar für Brüssel.

Doch bei der Wahl des Parlamentssitzes in Straßburg hatten sich die europäischen Gründerväter etwas gedacht. Nämlich eine demokratische Gewaltenteilung. Parlament in Straßburg, Europäischer Gerichtshof in Luxemburg und Kommission und Europäischer Rat in Brüssel. Der Versuch, das Parlament nach Brüssel zu ziehen, ist ein Angriff auf die europäische Demokratie.

Nun rächt sich auch, dass die Stadt Straßburg in den letzten beiden Amtszeiten das Thema „Europa“ vor allem aus der Sicht feiner Buffets und hübscher Reisen betrachtet hat. In fast allen wichtigen europäischen Fragen fehlte Straßburg. Eine mit 50.000 € ausgestattete „Task Force“ beschäftigte sich mehr mit sich selbst als mit Europa und auch das immer wieder gefeierte „Lieu d’Europe“ ist auch nicht gerade umwerfend. Zumindest nicht, wenn man an das „Parlementarium“ in Brüssel denkt. So viele verpasste Chancen, so wenig Ambitionen und heute, wo man merkt, dass sich das Europäische Parlament immer mehr von Straßburg entfernt, wird gejault. Etwas spät.

Gefordert sind jetzt Emmanuel Macron und Angela Merkel, um diesem schleichenden Wegzug des Parlaments energisch einen Riegel vorzuschieben. Die Europäischen Verträge sind eindeutig und die Forderung nach einem einzigen Parlamentssitz gerechtfertigt. Dieser Sitz kann nur in Straßburg sein und nicht im Lobby-infizierten Brüssel.

2 Kommentare zu Warum eigentlich Brüssel?

  1. Die “Bedeutung Straßburgs für die Wiedereingliederung Deutschlands in die europäische Völkerfamilie” lassen sich die deutschen Politiker bestimmt nicht gerne vorhalten und das ist wahrscheinlich eher ein Grund, daß sie sich in Brüssel wohler fühlen.

  2. Das Schweigen von Macron, von der Leyen und Merkel in diesem Vorgang ist unüberhörbar.

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