Warum wir manchmal (etwas zu) kritisch sind…

Einige unserer Leserinnen und Leser würden es lieber sehen, wenn wir nicht so häufig kritische Artikel über Deutschland, Frankreich, Europa und Gott und die Welt schreiben würden. Geht uns witzigerweise genau so.

Ja, OK, wir sind vielleicht manchmal etwas zu kritisch. Aber weichgespült sind schon genug andere. Foto: Jessica Flavin, London, England / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Hm. „Ihr seid immer so kritisch,“ schreiben uns einige Leserinnen und Leser. „Schreibt doch mal etwas positiver!“ Das ist eine tolle Idee. Versuchen wir es mal. Dann sehen wir ja gemeinsam, ob das klappt. Am besten nehmen wir dazu einige der Themen, mit denen wir in letzter Zeit am häufigsten zu tun hatten und versuchen wir mal, die positiv darzustellen und ‘rauszufinden, was uns wohl geritten hat, diese Themen nicht so klasse aussehen zu lassen.

Griechenland. Alles prima, vor allem das Klima. Den Griechen geht es gut. Zumindest den Griechen, die es verdienen. Denn wir wissen ja alle, dass auch in Griechenland jeder, der anständig arbeiten will, auch einen Job findet. Und diejenigen, denen es grade offenbar nicht so toll geht, sollten sich einfach einen Job suchen, statt permanent am Strand Party zu machen und Unmengen Ouzo und Krassi auf den deutschen Deckel zu saufen. Dann klappt’s auch mit dem Schuldendienst. Alles positiv – Griechenland bedient wieder seine Kreditraten bei der EZB und beim IWF und damit, ja, klasse, ist alles in Ordnung! Uff.

Flüchtlinge. Jetzt geben wir es zu, wir übertreiben gerne. Diejenigen, die behaupten, das Boot sei voll, haben natürlich völlig Recht. Es ist voll bis zum Überlaufen. Und man muss natürlich dafür Verständnis haben, wenn Mitmenschen, denen die Politik nicht schnell genug die Liste der sicheren Herkunftsländer ausweitet, eben auch mal zu einem Brandsatz greifen, um ihre völlig berechtigte Forderung zur Begrenzung der Einwanderung zu unterstreichen. Klar. Und wer meint, das Kosovo sei kein sicheres Herkunftsland, der kann sich ja selbst vor Ort überzeugen – alles in Ordnung in Tirana. Versprochen – heute werden Sie kein kritisches Wort von uns darüber hören. Und wer sich keine DIN-konforme Schwimmweste leisten kann, der sollte eben nicht auf seeuntüchtige Nussschalen klettern. Ist ja irgendwie logisch.

Rechtsextremismus. Was, bitteschön, soll schlecht am schleichenden und radikalen Nationalismus in Europa sein? Wir sind schließlich selbst daran Schuld, wenn wir uns darüber aufregen, wenn wir lesen, dass die Anzahl der Todesopfer rechtsextremer Gewalt doch viel höher ist, als wir gedacht hatten. Im Grunde ist das, was in Sachsen und anderswo stattfindet, ja eine Art „natürliche Selektion“, wie sie auch im Tierreich stattfindet. Das wissen wir spätestens seit Darwin – „the fittest survive“. Und wer als, sagen wir mal, afrikanischer Flüchtling bei einem Volksfest eine Gruppe Glatze tragende Jugendliche anspricht und um Feuer für seine Zigarette bittet, der hat ja damit praktisch schon den Beweis angetreten, dass er für das Leben in Europa nicht so richtig geeignet ist. Und dann ist er folglich auch selbst dafür verantwortlich, wenn er von eben jenen Glatzen verprügelt oder verletzt oder auch mal totgeschlagen wird. Immerhin, Behörden und Massenmedien sind in solchen Fällen ja auch oft objektiver als wir, das müssen wir zugeben. „Die Ermittler können einen rechtsextremen und fremdenfeindlichen Hintergrund der Tat nicht ausschließen“, das lesen wir dann ja häufig. Warum sich also aufregen?

Finanzmärkte. Da müssen wir deutlich Abbitte leisten. Wir sollten tatsächlich nicht so kritisch mit ihnen umgehen. Denn entweder geht es ihnen gut und sie machen großartige Gewinne, mit denen dann die Aktionäre die Konjunktur beleben können oder es geht ihnen schlecht und dann sind sie eben systemrelevant und wir retten sie. Das macht unter dem Strich ja auch deutlich mehr Sinn, als Menschen zu retten. Denn Banken kommen am Ende des Tages besser ohne Menschen klar als Menschen ohne Banken. Sorry, unser Fehler.

Die „Germanisierung Europas“. Ja, das räumen wir kleinlaut ein – das ist ein Begriff, den wir in letzter Zeit inflationär verwendet haben. Und das tut uns leid. Denn wir haben diesen Begriff als etwas Negatives verwendet, wobei wir doch genau wissen müssten, dass daran überhaupt nichts Schlechtes ist, wenn Europa deutsch wird. Daran basteln wir Deutschen nun immerhin seit einem ganzen Jahrhundert und wenn Schäuble und Merkel das schaffen, was Bismarck, Wilhelm II. und den anderen in den 30er Jahren nicht gelungen ist, dann sollten wir eigentlich nicht meckern, sondern laut Beifall klatschen. Was wir beim nächsten von Deutschland gesteuerten Staatsstreich in Südeuropa dann auch einfach mal versuchen werden.

Linke Gewerkschaften. An dieser Stelle wollen wir uns ganz herzlich dafür entschuldigen, Arbeitskampf-Maßnahmen der Gewerkschaften als „positiv“ oder „gerechtfertigt“ dargestellt zu haben. Heute begreifen wir, dass die Politik der Arbeitgeber auf höhere Ziele ausgerichtet ist, als auf die schnöden Einkommen der Mitarbeiter. Und dass das gut ist. Und dass es schlecht ist, wenn Arbeitnehmer höhere Löhne und Gehälter fordern und dafür sogar streiken. Und dass es viel besser ist, wenn die Arbeitnehmer einfach abwarten, was die Arbeitgeber bereit sind, ihnen zu geben. Die werden nämlich gute Gründe für Lohnerhöhungen oder -Senkungen haben, die sich uns zumeist in unserer Naivität nicht genau erschließen. Tschuldigung.

Die zögerlichen Fortschritte in den deutsch-französischen Beziehungen. Ja, nee, ist klar – da sind wir einfach zu ungeduldig. Statt einzusehen, dass es eben ein paar Jahrzehnte dauert, um eine grenzüberschreitende Struktur wie einen Eurodistrikt aufzubauen, haben wir uns immer wieder schuldig gemacht, mehr Dynamik zu fordern. Mehr Dynamik! Ja, geht’s noch? Dabei weiß doch jeder, dass erstmal in aller Ruhe geklärt werden muss, in welcher Verwaltungsform grenzüberschreitend gearbeitet werden soll und darf. Das ist auch wichtiger als irgendwelche dämlichen Bürgerprojekte. Entschuldigen möchten wir uns auch bei einem ehemaligen Kehler Bürgermeister, der uns auf die dusselige Frage nach mehr Bürgerbeteiligung einen wahrhaft schlauen Satz mit auf den Weg gegeben hat, dessen tieferen Sinn wir erst Jahre später richtig verstanden haben. „Bürgerbeteiligung?“ sagte dieser Bürgermeister, „Das können die Leute gerne machen, wenn sie beim FC Eurodistrikt kicken!“ Stark. Blöd von uns, das nicht sofort richtig eingeordnet zu haben.

Interkulturelle Auseinandersetzungen. Auch da haben unsere Kritiker natürlich Recht. Was geht es uns an, wenn sich Araber, Kurden, Türken und anderes Gesocks gegenseitig totschießen? Was mischen wir uns da ein? Letztlich ist doch das Beste, was dem Abendland passieren kann, wenn die sich dort gegenseitig umbringen. Das Problem sind wir – wir haben nämlich viel zu lange gebraucht, das zu begreifen. Und wir werden versuchen, solche komplexen Umstände künftig schneller zu verstehen und aufhören, permanent von unseren Politikern zu fordern, sie mögen sich dort vermittelnd und positiv einbringen.

Wolfgang Schäuble. Ziehen wir, als kleine Geste der überfälligen Entschuldigung, einfach mal für einen Tag alle unsere Kritik an ihm zurück und fordern wir die richtige Anerkennung für den Mann, der dafür sorgt, dass alles gut wird. Wir bieten zur Auswahl an: a) das Amt des Bundespräsidenten, b) die nächste Papstwahl (es gab auch noch keinen „Wolfgang“ als Papst, Wolfgang I. ginge also) oder c) das Amt des Bundestrainers. Hätte er irgendwie alles verdient. Das zumindest wollen wir uns heute mal einreden.

Zufrieden? Besser? Positiv genug? Unkritisch genug? Aber wissen Sie was, wenn Sie meinen, dass das positiver ist als das, was Sie gewöhnlich bei uns lesen, dann sollten Sie vielleicht doch lieber das BILD-Abonnement verlängern oder die Nachrichten auf RTL II schauen. Denn leider, leider – werden Sie ab morgen wieder Eurojournalist(e) im alten Format wiederfinden. Denn das, was wir in diesem Artikel geschrieben haben, das werden Sie auf dieser deutsch-französischen Internet-Site nur einmal lesen. Heute. Und dann nie wieder. Sorry.

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