Was man nicht sieht, das gibt es nicht

Europäische Reeder weichen gezielt den Flüchtlingsrouten im Mittelmeer aus, um ja nicht in Seenotrettungs-Aktionen involviert zu werden. Das Verhalten Europas wird von Woche zu Woche schlimmer.

Die europäischen Spitzenpolitiker bei der Analyse der Migrationsfrage. Foto: John Snape / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Die Europäische Union führt selbst keine Seenotrettungs-Operationen im Mittelmeer durch, sondern kooperiert lieber mit kriminellen Banden an den nordafrikanischen Küsten. Damit Handelsschiffe nicht in die Verlegenheit geraten, Schiffbrüchige retten zu müssen, wie es das Internationale Seerecht unzweideutig verlangt, ändern diese inzwischen ihre Routen, um das Problem weiträumig zu umfahren. Bleiben also nur die NGO-Rettungsschiffe und die – werden kriminalisiert. Der kalte Zynismus, mit dem wir Europäer weiterhin das massive Sterben im Mittelmeer unterstützen, erreicht jede Woche neue Höhepunkte.

Die Flüchtlingsrouten über das Mittelmeer sind bekannt – und können deshalb umfahren werden. Für die Reeder, die im Termingeschäft arbeiten, kostet zwar jeder Umweg Geld, doch sie nehmen diese Kosten in Kauf, um nicht in die Situation zu kommen, dass sie gemäß dem Internationalen Seerecht, Schiffbrüchigen zu Hilfe kommen müssen. Denn das kostet ebenfalls Zeit und Geld, traumatisiert die Besatzungen, da es regelmäßig bei Rettungsaktionen zu Zwischenfällen kommt, beispielsweise, wenn ein Flüchtlingsboot bei der Rettungsaktion kentert und völlig entkräftete Menschen vor den Augen der potentiellen Retter ertrinken. Und vor allem – die Reeder fürchten den Vorwurf der „Unterstützung von Schlepperbanden“, ein Vorwurf, der mittlerweile systematisch von der italienischen Regierung allen gemacht wird, die Menschenleben retten.

Doch wer bleibt, um das Leben der verzweifelten Migranten zu retten? Da sind zum einen die Schiffe der nordafrikanischen Küstenwachen, gut ausgerüstet, trainiert und ausgestattet mit EU-Geldern, die Flüchtlingsboote auch in internationalen Gewässern aufbringen und in die Konzentrationslager in Nordafrika zurückbringen und – die privaten Rettungsschiffe, die von den europäischen Behörden wie Kriminelle behandelt werden.

Das Internationale Seerecht verpflichtet jedes Schiff, Menschen in Seenot zur Hilfe zu eilen. Dies nicht zu tun, ist ein mit Strafen bewehrtes Vergehen. Da ist es seltsam, dass die privaten Rettungsschiffe, die genau diese Verpflichtung befolgen, kriminalisiert werden, nicht aber solche Schiffe, die sich weigern, Menschen zu retten.

Diesen Vorwurf konnte man den internationalen Handelsflotten in den letzten Jahren nicht machen – 2015/16 retteten Handelsschiffe nicht weniger als 110.000 Menschen vor dem sicheren Ertrinken (2015: 50.000 Menschen, 2016: 60.000 Menschen) und erfüllten damit ihre humanitäre Verpflichtung. Wenn nun Handelsschiffe Umwege in Kauf nehmen, um die Fluchtrouten zu umfahren, werden diejenigen Menschen, die bisher gerettet werden konnten, zwangsläufig ertrinken. Und das ist nicht die Schuld krimineller Schlepperbanden, sondern die Schuld der fehlenden europäischen Solidarität, der skandalösen Haltung der Visegrad-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechische Republik und Polen), des Wegschauens der anderen europäischen Staaten, die fast alle die von der EU festgelegten Verteilungsschlüssel ignorieren und die Mittelmeer-Anrainerstaaten mit dieser Problematik schändlich alleine lassen.

Die Diskussion über die Rettung schiffsbrüchiger Menschen ist peinlich, denn die Frage darf eigentlich nicht lauten, ob nun Frachter oder private Rettungsschiffe diesen Menschen das Leben retten, sondern die Frage lautet, warum die Behörden dies NICHT tun und warum sie sogar noch diejenigen kriminalisieren, die Menschenleben retten.

Ob man es nun will oder nicht – allein eine europäische Lösung dieser Frage kann dieses Problem auffangen. Wegschauen ist eine zu bequeme Lösung, bei der Tausende und Abertausende ihr Leben lassen müssen. Auf die europäischen Institutionen kommt die Verpflichtung zu, alles zu hinterfragen, was sie bisher zu diesem Thema getan hat. Europa muss für Lösungen sorgen, die anders aussehen als die Menschen zum Ertrinken zu verurteilen und bei denen Lebensretter nicht kriminalisiert werden. Es ist an der Zeit, einen Kampf gegen das Sterben im Mittelmeer zu beginnen – für das Geschäftsmodell der Schlepperbanden hat die EU inzwischen mehr als genug getan. Jetzt, wo die Täter versorgt sind, sollte man anfangen, sich um die Opfer zu kümmern.

 

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