„Was nützt das schönste Spiel, wenn man nichts zu essen hat?“

Martin Wagner hat Verständnis für die Proteste in Brasilien. Foto: © Kai Littmann

Interview zum Start der Fußball-WM in Brasilien mit unserem Fußballexperten Martin Wagner, der 1994 selbst bei der WM in den USA mitgspielt hat.

Martin, heute fängt die WM in Brasilien an. Die Standardfrage – Wer wird Weltmeister?

Martin Wagner: Topfavorit ist natürlich Brasilien, aber ich gehe auf jeden Fall davon aus, dass eine südamerikanische Mannschaft den Titel holen wird.

Warum?

MW: Die klimatischen Verhältnisse in Brasilien kommen den südamerikanischen Teams natürlich entgegen. Hitze, Luftfeuchtigkeit, aber auch Elemente wie die Beschaffenheit des Rasens sind für europäische Teams gewöhnungsbedürftig. Dazu werden die südamerikanischen Mannschaften von der Euphorie der Fans getragen werden. Zum Favoritenkreis gehören damit auch Argentinien oder Chile. Von den europäischen Teams dürften Spanien, Deutschland, Holland und Belgien eine positive Rolle spielen.

Diese WM ist von Unruhen im Vorfeld geprägt – können diese einen Einfluss auf den Ablauf der WM haben?

MW: Das ist leider durchaus möglich. Sollte beispielsweise Brasilien frühzeitig aus dem Turnier ausscheiden, könnten die Unruhen eine weitere Eskalationsstufe erreichen. Immerhin, die WM hat 11 Milliarden Dollar gekostet, Geld, das besser in Schulbildung, Arbeitsplätze und Infrastruktur investiert worden wäre. So wird Brasilien nach den vier Wochen der WM jede Menge großer Stadien haben, die kein Mensch braucht. Der größte Verlierer bei dieser WM steht bereits fest – die kleinen Leute.

Du hast also Verständnis für die Proteste in Brasilien?

MW: Absolut – was nützt das schönste Fußballspiel im Fernsehen, wenn man nichts zum Essen auf dem Teller hat?

Aber warum trägt man dann solche Turniere in wirtschaftlich schwachen Ländern aus?

MW: Das Argument für die Vergabe der WM in diese Länder ist immer das gleiche – die FIFA sagt, dass durch die WM ein Innovationsprozess in diesen Ländern startet und dass dadurch Arbeitsplätze entstehen und die Wirtschaft angekurbelt wird. Das dies nicht stimmt, sieht man ja in Südafrika. Nach der tollen WM 2010 stehen heute überall im Land tolle Stadien, die niemand braucht. So wird es auch in Brasilien sein. Dass die Verantwortung dafür bei der FIFA liegt, ist klar. Da muss man nur auf den Skandal um die Vergabe der WM 2022 nach Katar schauen. Der Fisch fängt immer am Kopf an zu stinken….

Wie beurteilst Du den deutschen Kader, so ganz ohne Stürmer?

MW: Oha, ein schwieriges Thema. Sagen wir mal so – die Zusammensetzung des Kaders ist seltsam. Max Kruse ist nicht dabei, obwohl er zwei sehr gute Spielzeiten absolviert hat, Stefan Kießling ist nicht einmal im erweiterten Kreis, Kevin Volland wurde gestrichen und so bleibt nur Miro Klose mit seinen 36 Jahren und einer halben Saison Verletzungspech. Mit diesem Kader tanzt Jogi Löw auf einer Rasierklinge. Wenn nicht mindestens das Halbfinale erreicht wird, wird er wohl in Bedrängnis kommen.

Und – wie weit kommt das deutsche Team?

MW: Wenn das Team die Vorrunde übersteht, ist alles möglich. Der Auftakt gegen Portugal ist besonders wichtig, denn hier werden schon die Weichen gestellt. Sollte man gegen Portugal nicht gewinnen, wird es schon ganz schwer. Aufgrund der guten Leistungen des Teams und der dazugehörigen Favoritenrolle ist die Nationalmannschaft der Gejagte – gegen und wird jeder Gegner 100 % geben. Die Mannschaft muss also von Beginn an hellwach sein und sich darauf einstellen, dass es nicht nur wegen der Temperaturen sehr heiß werden wird…

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