Welche Seite ist Westen, oben oder unten? Upper West Side in der Rheinoper

Die Story aus der Upper West Side ist die letzte Oper der Saison, die ein Musical ist. In Straßburg werden Berliner das Manhattan von New York auf die Bühne bringen, wohin auf dem Broadway das Verona aus Stratford-upon-Avon umgesiedelt wurde.

West Side Story - Wo tanzt und singt es sich besser als im unteren oder im obersten Stockwerk? Foto: Grafik von M. Grandjouan - OnR

(Michael Magercord) – Die Liebe über alle Schranken und Grenzen der Gesellschaft hinweg war so manches Mal ein beliebtes Thema für so manches Drama. Und diese Geschichten verlaufen dann meist auch noch ohne Happy End. Im alten England sowieso, doch erstaunlicher Weise sogar in der Unterhaltungsmaschinerie des amerikanischen Broadways. Was allerdings nicht mehr so erstaunlich ist, wenn man weiß, das beide Stücke, das Theater von William Shakespeare und das Musical von Leonard Bernstein, im Grunde ein und dieselbe Geschichte sind, egal ob sich da nun Romeo und Julia in Verona oder Maria und Tony in New York an der unmöglichen Liebe versuchen.

Wo verlaufen die Schranken und Grenzen, die letztlich nicht einmal die Liebe zu überschreiten vermag? Ja, diese guten alten Geschichten, selbst wenn sie wie in der „West Side Story“ in ziemlich beschwingenden Rhythmen daherkommen, rühren nach wie an den ungeklärten Fragen des Menschseins. Die bald sechzig Darsteller, die sich in dieser Inszenierung der Komischen Oper Berlin unter Diskokugeln singend und tanzend auf der Bühne tummeln, hotten sich an der Trennlinie zwischen den Wünschen des Individuums und den Ansprüchen ihrer Gesellschaft ab – oder gleich noch eine Nummer größer: zwischen dem Wollen der Menschen und dem Sollen der Menschheit.

Das Spiel auf der Bühne beginnt nicht mit einer Seitenwahl. Die Grenzziehung und damit die Aufteilung, wer auf welcher Seite steht, ist schon lange erfolgt. Doch immerhin lässt sich mithilfe der Musik noch klären, was passiert, wenn es auf dieser Trennlinie zum Konflikt kommt. Dann wird im ärmlichen Teil Manhattans der 1950er Jahre nämlich gesungen und getanzt – und wie! Denn der Druck muss raus, der sich ergibt, wenn die innige Gefühlswelt des Einzelnen mit dem Zugehörigkeitsgefühl zu seiner Gruppe überkreuzgerät. Und es ist die gute alte Liebe, die die jungen Leute aus der Upper West Side in Bewegung versetzt, als sich nämlich Tony, der Sohn von Einwanderern aus Polen, und Maria, eine junge Einwanderin aus Puerto Rico, ineinander verguckt haben.

Das hätte nicht passieren dürfen, sind doch die beiden Liebenden Angehörige scharf nach ethnischer Herkunft getrennter Ghettobanden, den Düsenfliegern und den Haien. Die heißen im Original etwas eleganter Jets und Sharks, und solange sich diese Banden ganz nach den ungeschriebenen und deshalb umso klareren Gesetzen des Ghettos ihre Scharmützel liefern, bleibt ihre Welt in Ordnung. Doch dann hat diese Liebe das halbstarke Gleichgewicht aus der Balance gebracht. So sehr, dass es zu Loyalitätskonflikten innerhalb der Gruppen kommt. Die Liebe über die Schranken der Zugehörigkeit hinweg gleicht einem Aufstand gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, der schließlich mit Waffen niedergeschlagen werden wird.

Soweit, so traurig – und eben auch normal. Denn mal ehrlich, was hat Liebe in der Gesellschaft jemals bewirkt? Die Hippies haben etwa zehn Jahre nach dem Unhappy End der „West Side Story“ mit Peace and Love probiert, sie zum Allgemeingut werden zu lassen. Und in auf ihre Weise haben die Ökos nochmals zehn Jahre drauf diesen Versuch mit ihrem Prinzip der Verantwortung für den Zustand des Planeten für zukünftige Generationen weitergeführt. Beides aber blieb für den Lauf der Welt ziemlich wirkungslos. Die Kurzfassung ihres Scheiterns im Großen lässt sich allabendlich in der Tagesschau verfolgen, ihre Aussichtslosigkeit im Kleinen ab Sonntag auf der Bühne der Rheinoper von Straßburg.

Auf den Brettern, die die Welt ja nur bedeuten, lässt sich vielleicht viel deutlicher erkennen, dass die unsichtbaren Grenzen hartnäckiger sind, als wir heute, wo man doch meinen könnte, die gesellschaftlichen Regenbogenzeiten seien unwiderruflich angebrochen, nur allzu gerne glauben möchten. Wie sich aber die Grenzen von selbst ziehen und aufrechterhalten, zeigt sich auf der Bühne auch darin, dass sich die Mitglieder der beiden Rasselbanden eigentlich kaum voneinander unterscheiden. Sie alle, die Jets und die Sharks, sind Ghettokinder, Halbstarke, die in Konflikten gerne mal die Muskeln spielen lassen, auch, weil sie über andere Mittel kaum verfügen. Wo verliefe dann aber eigentlich die wahre Grenze, wenn nicht die Herkunft die Seitenwahl bestimmen soll? Vielleicht zwischen Oben und Unten?

Unsichtbare Grenzen, wohin man schaut – und nirgendwo zeigt sie sich ihre Unsichtbarkeit offener, als ausgerechnet in der echten Upper West Side von New York. Klar begrenzt im Süden durch den Businessdistrict, im Osten durch den Central Park und westlich vom Hudson River, wanderte die Nordgrenze des eher bürgerlichen Stadtviertels in den letzten sieben Jahrzehnten Straßenzug für Straßenzug beständig nach Oben – und nicht nur im geografischen Sinne. Historisch lag die Grenze auf der 110. Straße, heute hat sie sich auf die 125. Straße vorgeschoben. Wie? Durch die Veränderung der Bevölkerungsstruktur, die man auch als Gentrifizierung bezeichnet. Dieser Prozess begann, als das Musical auf dem Broadway anlief, und als 1960 seine Verfilmung am Originalschauplatz erfolgte, wurde der geplante Abriss eines alten Häuserblocks für die Dreharbeiten verschoben – der schönen Kulisse wegen. Das aber war nur ein Luftholen, danach ging es in immer schnelleren Schüben weiter: Der Aktienhype gepaart mit Gewinninvestition in Wohnimmobilien im Hochpreisbereich ging einher mit öffentlichen Infrastrukturprojekten zur Verbesserung des zuvor eher ärmlichen Wohnumfeldes, die – sicher gutgemeint – die nachfolgende Gentrifizierung erst recht beschleunigten.

Nichts Neues also von der Upper West Side, so oder so ähnlich vollzieht es sich an allen großen Städten der Welt, und doch: Wer auf dieser Grenzlinie im Norden der Upper West Side unterwegs ist, wundert sich über die unsichtbare Mauer, die eine völlig normale Straße zieht: Auf der einen Seite gediehenes Wohnviertel mit ein paar hippen Jazzclubs, an denen ältere Herren mit der New York Times unterm Arm vorbeischlendern; auf der anderen Straßenseite verwahrlosten Backsteinbauten mit kleinen Shops und jungen Eckenstehern mit nervösen Blicken davor. Okay, das war jetzt eine zugespitzte Grenzbeschreibung aus der Klischeekiste eines ahnungslosen und mauerblinden Touristen, den aber die Ahnung beschleicht, dass diese beiden Welten schön unter sich bleiben, und zwar auch mit ihren Sorgen und Nöten – und sogar mit ihrer Gewalt.

Eine Zahl mag aus der Ahnung eine Vorahnung machen: Diese Upper West Side ist heute ein wohlbehütetes Viertel, zumindest für New Yorker Verhältnisse: Dort haben „nur“ 40 Prozent seiner Haushalte Schwierigkeiten, ihre Mieten zu bezahlen, wohingegen auf der anderen Straßenseite bald Zweidrittel der Bewohner den Monatsenden entgegen zittern. Wie viel Sprengstoff in solchen Zahlen steckt, und ob es sich auf diesem gesellschaftspolitischem Vulkan einmal ebenso hinreißend singen und tanzen ließe, wie zwischen den Feuerleitern dieser Inszenierung der „West Side Story“ aus dem Berliner Osten, wäre vielleicht dann doch eine andere Geschichte…

West Side Story
Musical von Leonard Bernstein aus dem Jahr 1957
in einer Produktion der Komischen Oper Berlin.

Dirigent: David Charles Abell
Regie: Barrie Kosky
Choreografie: Otto Pichler
Symphonieorchester Mülhausen
Ballet der Rheinoper

Straßburg – Opéra
SO 29. Mai, 17 Uhr
DI 31. Mai, 20 Uhr
MI 1. Juni, 20 Uhr
FR 3. Juni, 20 Uhr
SA 4 Juni, 20 Uhr
DI 7. Juni, 20 Uhr
MI 8. Juni, 20 Uhr
FR 10. Juni, 20 Uhr

Mülhausen – La Filature
SO 26. Juni, 17 Uhr
DI 28. Juni, 20 Uhr
MI 29. Juni, 20 Uhr

Informationen und Tickets: www.operanationaldurhin.eu
(empfohlen ab 12 Jahren)

Weitere Veranstaltungen der Rheinoper:

Abend der Solidarität mit der Ukraine
Konzert der Künstler der OnR
MO 30. Mai, 20 Uhr – Oper Straßburg
25 €, ermäßigt 10 €
Die Einnahmen gehen an „Ärzte ohne Grenzen“

Rezital mit Jakub Józef Orlinsky (Kontertenor)
Lieder von Purcell bis Copland mit Klavierbegleitung
MO 13. Juni, 20 Uhr – Oper Straßburg

Lyrische Stunde „Trouble in Tahiti“
Kammeroper von L. Bernstein von 1952
SA 18. Juni, 11 Uhr – Opera Straßburg
FR 24. Juni, 20 Uhr – Comédie in Colmar

Mittagskonzert mit Musikern des OPS
Melting Pot Amerika – Kammermusik von Bernstein, Gershwin, Ellington
MI 22. Juni, 12.30 Uhr – Oper Straßburg

1 Kommentar zu Welche Seite ist Westen, oben oder unten? Upper West Side in der Rheinoper

  1. Blick auf die Upper West Side Richtung Norden mit der George Washington Bridge (oben links). Links verlauft die West End Avenue Richtung Norden und rechts der Broadway

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