Weltkriege, Europa, Reims – Alfred Grosser vereint drei Generationen

Alfred Grosser ist ein großer Denker, überzeugter Europäer und echter Begeisterer. Seine Persönlichkeit ist so facettenreich wie seine eigene Biographie: freundlich aber bestimmt, ruhig aber elektrisierend, deutsch aber eigentlich lieber französisch, dabei in jeder Sekunde geschichtsbewusst. In Düsseldorf bestritt er das Schülergespräch “Frankreich, Deutschland und wir?“. Felix Neumann, Musiker und Pädagoge bei Zweierpasch, moderierte die Veranstaltung auf Einladung der Kunststiftung NRW.

Generationen im Gespräch - Felix Neumann von Zweierpasch und Alfred Grosser. Foto: (c) Das Reims-Projekt / Kunststiftung NRW / Melanie Stegemann

(Von Peer Eilig) – 100 Jahre liegt der 1. Weltkrieg zurück. Über 70 Jahre lang währt der Frieden im Herzen Europas, geprägt auch durch den Auf- und Ausbau der deutsch-französischen Beziehungen. Der Elysée-Vertrag aus dem Jahr 1963 gilt als Schlüssel der Wiederannäherung der beiden ehemals erbverfeindeten Nationen. Alfred Grosser, einer der Wegbereiter dieses Vertrages, stellte sich im März in Düsseldorf den Fragen junger Menschen zur Vergangenheit und Zukunft Europas.

Den Gesprächsrahmen bildete das sogenannten Reims-Projekt, das bereits seit 2015 unter Schirmherrschaft der ehemaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius ins Leben gerufen wurde. Es ermöglichte in einem symbolischen Akt der Versöhnung die Schenkung neuer Kirchenfenster für die Jeanne d’Arc-Kapelle der Kathedrale in Reims durch Deutschland. Initiiert wurde dieser durch den bekannten deutschen Maler und Bildhauer Imi Knoebel, der auch die künstlerische Umsetzung verantwortete. Die in Frankreich hoch bedeutungsvolle Kirche wurde im ersten Weltkrieg durch die deutsche Luftwaffe stark beschädigt.

Das Reims-Projekt fördert seit der Einweihung der farbenfrohen, an Splittermosaike erinnernden Fenster, gezielt junge Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit Europa, den deutsch-französischen Beziehungen und dem 1. Weltkrieg. So wirken neben Zweierpasch aus Freiburg und Straßburg auch der renommierte französische Autor Didier Daeninckx im Rahmen des Projekts mit. Die Angebote reichen von Kulturworkshops über einen Übersetzungswettbewerb bis zu HipHop-Konzerten und Schülergesprächen mit bekannten Persönlichkeiten.

Alfred Grosser, seines Zeichens ein kritisch-konstruktiver Geist, zeigte sich in Düsseldorf trotz seines hohen Alters (93) äußerst redefreudig und offen für die Fragen der Schüler. Moderator Felix Neumann führte souverän durch die vier unterschiedlichen Themenblöcke und band dabei immer wieder die versammelten jungen Menschen mit ein: Brauchen wir einen neuen Elysée-Vertrag? Wie steht es um die Zukunft Europas? Welche Rolle kommt dabei der Jugend und Kulturarbeit zu? Wie erinnern Deutschland und Frankreich an den 1. und den 2. Weltkrieg?

Den Elysée-Vertrag selbst hält Grosser für kein überaus bedeutendes Werk, für die Jugend wurde mit der Gründung des deutsch-französischen Jugendwerks jedoch etwas Großes erreicht. Echte Freundschaft entsteht nun mal nicht durch ein Stück Papier, so sein Appell. Aufgewachsen in einer jüdisch-deutschen Familie in Frankfurt, floh er 1933 nach Frankreich und wurde einige Jahre später französischer Staatsbürger. „Als Deutsch-Franzose möchte ich heute nicht mehr bezeichnet werden, ich bin Franzose“, gibt er gleich zu Beginn zu verstehen. Seiner Sprachgewandheit tut dies jedoch keinen Abbruch.

Um Europa steht es nicht gut, das deutsch-französische Tandem müsse hier stärkere Impulse geben, so die Auffassung des Publizisten und Politologen aus Paris. Die Jugend sei heute mehr denn je gefragt, sie müsse politisch sein und Austauschprogramme nutzen. Zur Annäherung brauche es Begegnung, zur Begegnung die Sprache. Aus jeder seiner oft langen Antworten strahlte Überzeugung und der Wunsch anzustecken, zu inspirieren. Mit spannenden Anekdoten und menschlicher Wärme gewann er rasch alle Sympathien im Raum.

„Ein HipHop-Fan bin ich nicht, ich höre lieber klassische Musik“, ließ sich Grosser in Düsseldorf entlocken. Die Sprache der Jugend spricht er jedoch wie vielleicht kein Zweiter seines Jahrgangs, auch wenn er für den Gang aufs Podest eine Gehhilfe und stützende Arme benötigt. Sein Plädoyer Grenzen zu überschreiten und Mauern zu überwinden, eint ihn jedoch mit seinem Podiumskollegen und HipHop-Künstler Felix Neumann an diesem Mittag in Düsseldorf. Dessen Band drehte für ihren Song „Flagge auf Halbmast“ zuletzt in den Schützengräben des 1. Weltkriegs auf dem Hartmannswillerkopf im Elsass. Im Reims-Projekt setzen Zweierpasch das Lied verstärkt in Schreibwerkstätten ein und begeisterten damit Jugendliche von Düsseldorf bis nach Paris.

Alfred Grosser einte an diesem Tag drei Generationen: Schüler, Lehrer und Musiker sowie Kriegszeugen wie ihn selbst. In seinem vor kurzem erschienen Buch „Le Mensch“ befasst er sich mit Identitäten, Geschichte, Politik, aber auch mit dem Ableben. Allzu lange wird es bedeutende Zeitzeugen wie ihn nicht mehr geben, die anstecken, aufrütteln und begeistern.

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