Wenn die Demokratie das Handtuch wirft…

Das hat es im französischen Parlament noch nicht gegeben. Die Kommission, die 22.000 Änderungsanträge zum Gesetz über die Rentenreform bearbeiten soll, hat aufgegeben.

Wenn es so weitergeht wie bisher, kann Frankreich sein Parlament auch schliessen... Foto: Citevia / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Frankreichs Politik ist momentan, man hält es nicht für möglich, noch chaotischer als die deutsche Politik. Die geplante Rentenreform, die seit dem 5. Dezember Millionen Französinnen und Franzosen zu Protesten auf die Straße getrieben hat, wird am Ende wohl nicht demokratisch, sondern per Regierungsentscheid am Parlament vorbei entschieden werden. Dabei beschränkt sich die Opposition auf reine Sabotage. Langsam, aber sicher, schafft sich in Frankreich die Demokratie ab.

Die Oppositionsparteien PS, LR und LFI haben gegen das Gesetz zur geplanten Rentenreform nicht weniger als 22.000 Änderungsanträge eingereicht, von denen 19.000 alleine von der linksextremen LFI („La France Insoumise“) stammen. Die parlamentarische Kommission, die diese Änderungsanträge für die am 17. Februar und bis 3. März terminierte Behandlung in der Assemblée Nationale aufbereiten sollte, hatte neun Tage Zeit dafür. Nachdem diese Kommission das Kunststück fertigbrachte, in neun Tagen 8.000 dieser Anträge zu bearbeiten, hat sie nun das Handtuch geworfen – der Gesetzestext geht in seiner ursprünglichen Form ins Parlament. So etwas hat es noch nie gegeben – und der Grund für diese „Demokratie-Sabotage“ ist klar.

Der LFI-Abgeordnete Eric Coquerel hat es ganz offen erklärt: „Wir sorgen dafür, dass [die Debatte] am 3. März nicht abgeschlossen ist oder dass sie [die Regierung] den Paragraphen 49-3 einsetzen muss.“ Und was war nochmal der Paragraph 49-3?

Der Paragraph 49-3 der französischen Verfassung ist ein höchst seltsames Instrument in einer parlamentarischen Demokratie. Denn dieser Paragraph ermöglicht es der Regierung, einen Gesetzestext OHNE Abstimmung im Parlament zu verabschieden, unter der Voraussetzung, dass zuvor ein Misstrauensvotum gegen die Regierung abgelehnt wurde. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im französischen Parlament ist das eine reine Formsache. Dieser Paragraph 49-3 ist das wohl undemokratischste Element der französischen Verfassung, denn es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als den Hebel, mit dem die repräsentative Demokratie ausgehebelt werden kann.

Warum also drängen die Oppositionsparteien die Regierung zu diesem äußersten Mittel? Auch das ist leicht erklärbar. Am 15. März findet der erste Wahlgang der mit Spannung erwarteten Kommunal- und OB-Wahlen in Frankreich statt. Wenn am 3. März die Debatte zur Rentenreform nicht abgeschlossen ist, und die Regierung tatsächlich den 49-3 zieht, dann werden die letzten Tage vor der Wahl von einem Aufschrei der Oppositionsparteien geprägt sein, die der Regierungspartei LREM die Missachtung der Demokratie vorwerfen werden. Doch dieser taktische Schachzug dient einzig den Interessen der Oppositionsparteien, aber auf keinen Fall den Französinnen und Franzosen.

Da diese Rentenreform bei den Franzosen nur auf Ablehnung stößt, sie aber in der vorgeschlagenen und ziemlich zusammen gestümperten Fassung dann ohne Änderungen mit dem 49-3 am Parlament vorbei segeln wird, geht der ganze Vorgang völlig an den Französinnen und Franzosen vorbei, die dann die taktischen Spielchen der Parteien mit einer nicht gewollten Rentenreform auf unabsehbare Zeit ausbaden müssen.

Die „Sabotage“ der Parlamentsdebatte ist ebenso undemokratisch wie die Aussage von Regierungschef Edouard Philippe, diese Reform so oder so durchpeitschen zu wollen. Offensichtlich haben sowohl Regierung als auch Opposition große Probleme damit, dass die Staatsform der Demokratie in erster Linie die Interessen der Bürgerinnen und Bürger schützen und umsetzen soll und nicht diejenigen der Parteien.

Doch wenn weder Regierung noch Opposition die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vertreten, was sollen die Menschen dann am 15. März wählen? Wie wollen die Parteien das allgemeine Gefühl verändern, dass die Politik ein rundum korrupter Sumpf sei? Wem sollen die Französinnen und Franzosen überhaupt noch vertrauen, wenn die gesamte Politiklandschaft geschlossen gegen sie arbeitet?

Die Rechnung für das Spektakel, das gerade in Paris abgezogen wird, kommt schon bald. Zum einen werden natürlich die seit November 2018 (!) regelmäßig an den Wochenenden stattfindenden militanten Auseinandersetzungen wieder aufflackern und bei den Kommunal- und OB-Wahlen wird es massive Überraschungen geben. Jede Umfrage, die vor dem 3. März erscheint, kann man getrost vergessen – und langsam muss man sich fragen, ob es eigentlich in den französischen Parteien keine Berater mehr gibt, die noch halbwegs klar denken können. Die Regierungspartei LREM muss völlig realitätsfremd sein, wenn sie meint, sich am 15. März mit diesem Timing der Wählerschaft als tatkräftige und entschlossene Regierung zu präsentieren, die gerade erst erfolgreich eine Rentenreform durchgesetzt hat. Ist bei LREM noch jemand aufmerksam genug um mitzubekommen, dass seit vielen Wochen Millionen Wählerinnen und Wähler gegen diese Reform auf die Straße gehen? Und haben die Oppositionsparteien keine Berater, die ihnen ins Ohr flüstern, dass ihr undemokratisches Verhalten den Interessen der Wählerschaft entgegen läuft?

Man kann nur hoffen, dass die Franzosen es hinbekommen, noch einmal zwei Jahre lang diese Regierung und diese Opposition zu ertragen, ohne dass das Land in bürgerkriegsähnlichen Zuständen versinkt. Und dann wäre es an der Zeit, per Wahlzettel diesen Augiasstall auszumisten.

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