Wenn ich einmal reich wär’ – Anatevka in der Rheinoper

Die hochgelobte Inszenierung des Broadway-Klassikers „Anatevka“ von Barrie Kosky der Berliner Komischen Oper ist das Adventsstück in Straßburg und Mülhausen. Sie wird uns entführen in die Welt der jüdischen Schtetl – oder an den Broadway in New York?

Tevje hat es nicht leicht mit seinem Frauenhaushalt - Anatevka, ein Musical-Klassiker! Foto: Klara Beck / OnR

(Von Michael Magercord) – Wenn ich einmal reich wär’ – wer von sich behaupten kann, er hätte diesen Satz noch nie vor sich hin gedacht, hin gesprochen oder gar geseufzt, der höre an dieser Stelle auf zu lesen… Sie lesen weiter? Schön, dann werden Sie jetzt noch erfahren, was diesem Satz folgt, wenn man ihn nicht nur vor sich hin denkt, sagt oder seufzt, sondern singt. „Oh je widi widi widi widi widi widi bum“ nämlich – und das ist gar nicht so albern, wie es auf das erste Hören klingen mag.

Allzu viel jedenfalls fällt dem Milchmann Tevje, der dieses Lied singt, danach nicht ein: nicht mehr Arbeiten müssen, der schuftenden Ehefrau Personal zur Seite stellen und ein Riesenhaus bauen. Doch die eigentliche Botschaft seines Gesangs ist das sinnfreie Gedudel danach, denn Tevje lebt in einer Welt, in der es völlig unvorstellbar ist, dass er tatsächlich einmal reich werden könnte, warum also nicht wenigstens fröhlich vor sich herträllern.

Unser Milchmann lebt in Anatevka, einem in einem jüdischen Schtetl im zaristischen Russland des Jahres 1905. Ein Ort also, wie es sie damals viele gab in Galizien und Umgebung. Das waren Orte, wo die Juden nicht im Ghetto lebten, sondern eine eigenständige Gemeinschaft bildeten. Und die Armut war zwar überall präsent, „die Juden waren jedoch von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt. Im Schtetl gab es nicht eine Spur eines Minderwertigkeitsgefühls wegen der Zugehörigkeit zum Judentum und daher nicht die geringste Neigung, das eigene Wesen zu verhüllen oder wie die anderen zu werden“.

So hat es jedenfalls der in Galizien geborene Autos Manès Sperber in seinem Roman „Die Wasserträger Gottes“ beschrieben. Und so scheint es auch in Anatevka zu sein, dem fiktiven Ort, der 1964 auf der Broadway-Bühne zum Leben erweckt wurde und wo der Milchmann seine fünf Töchter angemessen unter die Haube bringen will. Angemessen heißt eben nicht unbedingt reich, sondern vor allem seinen moralischen und religiösen Maßstäben angemessen. Das wird aber in diesen Zeiten, nämlich 1905 ebenso wie 1964, nicht mehr reibungslos vonstatten gehen. Und nach all den Turbulenzen wird auch der Tevje zumindest bei einer seiner Töchter scheitern, so sehr, dass es kein familiäres Happy End gibt.

Dieses Ende ist auch das Ende von Anatevka, denn auch der fiktive Ort kann dem Schicksal seiner Vorbilder nicht entgehen. Es kommt zu Pogromen und schließlich wandern die Juden aus nach New York. Dort befinden sich heute die Schtetl wie etwa in Williamsburg in Brooklyn, wo heute noch das Jiddisch aus Galizien gepflegt wird. Die Sprache, in der das Buch von der Geschichte des Milchmanns geschrieben wurde von einem Autor, Schalom Alejchem, der in Galizien geboren wurde und die besondere Art das Leben zu betrachten mit nach New York genommen hat, wo er 1916 starb.

Das Musical aus dem Jahre 1964 nimmt diese Lebensbetrachtung auf. Der Grat zwischen Spaß und tödlichem Ernst ist schmal und doch wird er zielsicher beschritten. Trotz aller Tragik: Es ist die Lebenslust und der Überlebenswille der Juden des Schtetl, das uns bis heute bezaubert. Am Ende, das ja kein fröhliches ist, macht nicht die Schwere des Leidens leiden, sondern man leidet mit Tevje, wenn der beklagt, dass die Leichtigkeit des Lebens verschwunden sei. Genutzt hätte es ihm da auch nicht viel, wenn er tatsächlich reich geworden wäre: So oder so, vorbei war es nun mit dem „Oh je widi widi widi widi widi widi bum“.

Anatevka – Fiddler on the Roof
Musical aus dem Jahre 1964

Produktion der Komische Oper Berlin
Regie: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Koen Schoots
Choreografie: Otto Pichler

Straßburg / Opéra
FR 6. Dezember, 20 Uhr
SO 8. Dezember, 15 Uhr
DI 10. Dezember, 20 Uhr
MI 11. Dezember, 20 Uhr
FR 13. Dezember, 20 Uhr
SA 14. Dezember, 20 Uhr
SO 15. Dezember, 15 Uhr
DI 17. Dezember, 20 Uhr

Mülhausen / La Filature
FR 10. Januar 20 Uhr
SO 12. Januar 15 Uhr

Information und Tickets: www.operanationaldurhin.eu

Weitere Veranstaltung:
Rezital
Michael Spyres – Baryton
Klavierbegleitung: Roger Vignoles
Oper Straßburg. SA 7. Dezember, 20 Uhr

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