Wenn Sie Alexis Tsipras wären, wohin würden Sie denn gehen?

Das europäische Establishment ereifert sich über den Besuch des griechischen Premiers in Moskau. Dabei hat es selbst Alexis Tsipras dorthin getrieben.

Vladimir Putin hat gut lachen - die Borniertheit der EU treibt ihm Griechenland in die Arme. Foto: www.kremlin.ru /Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Das institutionelle Europa ist entsetzt. Da hat dieser hemdsärmelige griechische Premier doch die Stirn, nach Russland zu fahren und dort Zukunftspläne mit Wladimir Putin zu schmieden! Eine Unverschämtheit! Dabei hat ihm die EU doch so eine großartige Lösung aufgezeigt. So schöne Pläne hatte die EU für die griechische Regierung – Tsipras hätte nur sein Volk weiter aushungern müssen, damit die Großbanken weiterhin fette Gewinne machen können, so, wie es doch auch sein Vorgänger Samaras so prima gemacht hatte. Aber nein, diese unverschämte griechische Regierung hat die Stirn, sich mehr um die Menschen in Griechenland zu sorgen als um das Wohlergehen der „Märkte“. Und das geht nun gar nicht, findet man in Europa.

Das ist jetzt richtig doof für die EU. Alles lief so schön rund. Deutsche und europäische Großbanken konnten so herrlich in Griechenland Geld verdienen. Zum Beispiel mit griechischen Staatsanleihen, die mit einem „Risikobonus“ von bis zu 27 % gehandelt wurden – eine wunderbare Gelegenheit, sich die Taschen zu füllen! Eine Eurokrise, die Griechenland teuer zu stehen kam und Ländern wie Deutschland die Möglichkeit bot, „Negativzinsen“ einzufahren – bis diese linke Syriza auf der Bildfläche erschien und mit dem wahnwitzigen Versprechen, Politik für Menschen statt für Banken zu machen, die Wahlen gewann. Ein Alptraum für das europäische Establishment, das ja gerade dabei ist, die Lebensbedingungen in Europa im Rahmen des TTIP an die USA zu verschachern. Politik für Menschen, das hatte gerade noch gefehlt!

Also setzte man diesen aufmüpfigen Griechen, die sich zu allem Überfluss auch noch daran erinnerten, wie Nazideutschland ihre Kassen geplündert und das Land zerstört hatte, eben das Messer an den Hals. Und als dann, bereits vor Monaten, der Politikfuchs Putin den Griechen öffentlich die Hand anbot, da nahm das in Brüssel niemand ernst. Man ignorierte einfach die Möglichkeit, dass Griechenland, um seine Menschen vor der galoppierenden Verelendung zu bewahren, nach jedem Strohhalm greifen würde.

Man hatte sich in Europa zu sehr daran gewöhnt, das griechische Drama einfach nur buchhalterisch zu erfassen. Klar, man wusste, dass die Familien in Griechenland Einkommenseinbußen von bis zu 80 % hinnehmen mussten, dass 65 % der Jugendlichen arbeitslos sind, dass das Gesundheitssystem für Arme nicht mehr funktioniert – all das waren Spalten in den endlosen Excel-Tabellen der Beamten der Troika. Nur, dass hinter diesen Zahlen Schicksale konkret existierender Menschen stecken, das nahm in Brüssel und Berlin niemand wahr. Verständlich, denn die Beamten der Troika, die, um nicht als ökonomische Besatzungsmacht betrachtet zu werden, ihren Namen in “Institution” änderte, wohnen in Athen ja auch in Luxushotel und treiben sich nicht in den Vierteln herum, in denen die Menschen nichts zu essen haben. Weswegen in Brüssel und Berlin ja auch niemand versteht, dass es Tsipras Aufgabe ist, für ein menschenwürdiges Leben seiner Landsleute zu sorgen – unter Samaras war das doch gar kein Thema gewesen!

Die EU hat, einmal mehr, eine komplette Entwicklung verschlafen. Bereits vor Monaten konnte man hier auf Eurojournalist(e) die Warnung lesen, dass wenn die EU nicht gemeinsam mit der griechischen Regierung eine Lösung findet, mit der Menschen statt Banken gerettet werden, eine Situation entstehen wird, in der Tsipras gar nichts anderes übrig bleibt, als anderswo nach Hilfe zu suchen. Und genau das ist gerade passiert. Was das Brüsseler Establishment so richtig auf dem falschen Fuß erwischt hat. Russland und Griechenland werden gemeinsame Energieprojekte aufsetzen, gemeinsame Agrarfirmen gründen, mit denen die EU- und russischen Sanktionen unterlaufen werden können und die Welt lacht herzlich über die politische Blindheit unserer Institutionen.

Für Vladimir Putin ist die Entwicklung, die offenbar niemand in Brüssel ernst genommen hat, großartig. Über den Umweg Griechenland bekommt er einen Fuß in die Tür nach Europa und führt einmal mehr die EU am Nasenring durch die Manege. Aber Hauptsache, unsere spekulierenden Banken können weiterhin ihren Managern Millionenboni auszahlen. Im Übrigen ist es nicht das erste Mal, dass das Versagen der EU-Politik Putin die Gelegenheit gibt, sich als aufgeklärter Menschenfreund zu präsentieren. Auch das jämmerliche Herumeiern der EU, als es darum ging, Edward Snowden zu schützen, war schon eine solche Sternstunde, in der die EU alles daran setzte, Putin gut aussehen zu lassen.

Wenn es heißt, Europa steht am Scheideweg, dann wäre es vielleicht keine schlechte Idee, dies in Brüssel und Straßburg auch einmal zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Es ist schlicht und ergreifend nicht mehr hinnehmbar, dass sich die EU so organisiert, dass Millionen von Menschen im Süden Europas, aber inzwischen auch im ach so erfolgreichen Norden Europas vor die Hunde gehen, während die verfügbaren Gelder Banken und Rüstungskonzernen hinterher geworfen werden.

Ein Schuldenschnitt für Griechenland, gegen den sich Schäuble, Juncker & Co. so massiv gewehrt haben, hätte diese Entwicklung verhindern können. Dass Griechenland heute die EU als eine Art Besatzungsmacht empfindet, liegt vor allem daran, dass sich die EU genau wie eine solche verhält. Dass Brüssel dabei jetzt auch noch ausgerechnet Putin in die Karten spielt, ist ein Zeichen von Inkompetenz, politischem Starrsinn und der Unfähigkeit zu begreifen, dass die Zeiten des Wildwest-Kapitalismus der Finanzmärkte vorbei sein müssen, wenn wir nicht sehenden Auges in die erste große Katastrophe dieses Jahrhunderts laufen wollen. Die hat nämlich, während sich Brüssel um das Wohlergehen von zockenden Banken sorgt, schon längst angefangen.

Und das bringt uns zurück zur eigentlichen Frage – wenn Sie für das Wohlergehen des griechischen Volks verantwortlich wären, wenn Sie dafür sorgen müssten, dass die Lichter nicht ausgehen und trotzdem ein Wandel hin zu einer menschlicheren Politik möglich sein soll, würden Sie dann auch darauf warten, dass Wolfgang Schäuble das Richtige tut oder wären Sie auch nach Moskau geflogen, um nach dem letzten Strohhalm zu greifen?

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