Wie toll sind die Zahlen wirklich?

Die unglaublich guten Zahlen des deutschen Arbeitsmarktes können nicht darüber hinweg täuschen, dass fast ein Fünftel der Deutschen in Armut lebt.

"Whistle while you word"... aber so muss zum Glück fast niemand mehr arbeiten... Foto: Fell Exibition Slate Mine / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Wie jeden Monat sind die Zahlen des Arbeitsmarkts in Baden ausgezeichnet. Die Arbeitslosenquote in der benachbarten Ortenau liegt unverändert bei 2,8%, was technisch der Vollbeschäftigung entspricht. Doch bedeutet das, dass der soziale Frieden in Deutschland gesichert ist und soziale Protestbewegungen wie die französischen „Gelbwesten“ etwas sind, was es in Deutschland nicht geben kann?

Der Preis für den wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik ist hoch und wird vor allem von denen getragen, die weder Stimme noch Lobby haben – den rund 20 % der Deutschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Den anderen, ja, denen geht es ziemlich gut. Aber was ist das für eine Gesellschaft, die ein Fünftel ihrer Bevölkerung einfach ausschließt? Was ist das für ein Erfolgsmodell, das nur auf dem Rücken der Ärmsten funktionieren kann? Und wie weltfremd sind auch deutsche Politiker, die angesichts der Armut anregen, man solle doch seine Altersvorsorge über private Aktienkäufe absichern?

Schützen die guten Arbeitsmarktzahlen Deutschland vor einer „Revolution der Verzweifelten“, wie die, die gerade in Frankreich das Land erschüttert? Nein, mit Sicherheit nicht. Denn abgesehen davon, dass die traumhaften Statistiken der Agentur für Arbeit nur einen Teil der Wirklichkeit darstellen (da man aus den offiziellen Zahlen alles herausrechnet, was „schwer vermittelbar“, „zu alt“, „Problemfälle“ oder in „ABM-Maßnahmen“ ist), ist das Leben für die „Abgehängten“ praktisch nicht mehr in den Griff zu bekommen. Dass man von diesen 20 % so wenig hört, liegt daran, dass sie nicht organisiert sind, keine Lobby haben und überwiegend nicht wählen gehen. In Deutschland ziehen arme Menschen den Kopf zwischen die Schultern und versuchen nicht aufzufallen, alleine schon aus Angst, die Sozialleistungen gestrichen zu bekommen.

Armut ist ein politisches Problem. – Es ist keine Frage, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Agenturen für Arbeit den besten Job machen, den man machen kann. Sie betreuen Arbeitssuchende, sie akquirieren offene Stellen bei den Arbeitgebern, sie organisieren Qualifikationen und Kurse, sie bieten ein breites Informationsangebot und ehrlich gesagt weiß man gar nicht, was diese Menschen mehr machen sollten oder könnten. Der Rest ist nicht ihr, sondern ein politisches Problem. Denn wenn 20 % der Bevölkerung in Armut leben, wenn ein Fünftel der Jugend von Bildung und Teilhabe ausgeschlossen bleibt oder zumindest einen erschwerten Zugang hat, dann ist dies kein gesellschaftliches, sondern ein politisches Problem. Armut gehört zu den Problemen, die sich mit Geld lösen lassen und dieses Geld investiert die Politik leider nicht. Denn Armut ist ein wunderbares Instrument, um die „breite Masse“ zu disziplinieren. Die Angst vor Armut ist das, was die Menschen veranlasst, nicht allzu laut mit dem Fuß aufzustampfen. Oder gar solidarisch mit den Ärmsten zu sein.

Das französische Beispiel wird, ebenso wie die radioaktive Wolke von Tschernobyl, nicht an der Grenze Halt machen. Die Ausgeschlossenen der europäischen Gesellschaften werden versuchen, es den Franzosen nachzumachen und ebenfalls gegen ihre Armut aufbegehren. Denn wenn Menschen nicht mehr von ihrer Arbeit leben können, wenn Menschen aufgrund ihrer sozialen Lage von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, wenn für Millionen Kinder alleinerziehender Eltern die Ernährung und die Wohnsituation nicht gesichert sind, dann ist dies ein soziales Pulverfass, das irgendwann explodieren wird. Eben so wie gerade in Frankreich. Und dann nützen auch die schönsten Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt nichts mehr. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wir werden nicht umhinkommen, sehr schnell ein neues gesellschaftliches Modell aufzusetzen, in dessen Mittelpunkt Solidarität und Soziales stehen. Sollte das nicht geschehen, darf sich niemand wundern, wenn dieses Pulverfass auch in Deutschland explodiert.

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