Wir brauchen eine neue Gedächtniskultur

74 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau muss man feststellen, dass den neuen neo-nationalistischen Bewegungen in Europa die Gräuel der Vergangenheit egal sind.

Wer heute die Leiden der 6 Millionen Ermordeten und der Überlebenden verhöhnt, vertritt keine Meinung, sondern ist kriminell. Foto: Russian Government / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Die traurige Bilanz der Gedächtnisveranstaltungen zum 74. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ist schnell gezogen. Diejenigen, die sich betroffen äußerten, waren diejenigen, die sich ohnehin betroffen fühlen. Gleichzeitig stellt man fest, dass die zahlreichen neo-nationalistischen oder gar neonazistischen Strömungen in Europa absolut keinen Bezug mehr zwischen dem Faschismus und seiner direkten und furchtbaren Konsequenz haben.

Überall in Europa sind die Neonationalisten auf dem Vormarsch. Man hört sie erneut antisemitische Parolen brüllen, man hört sie von „Bürgerkrieg“ und anderem schwafeln und dazu erfährt man durch Umfragen, dass die historische Tatsache des Holocausts inzwischen vielen unbekannt ist. Das kollektive Gedächtnis der Neonationalisten hat die Greuel der Nazizeit verdrängt, beschönigt sie und träumt laut und offen davon, dass wieder Verhältnisse wie in den 30er Jahren herrschen.

In den Vernichtungslagern der Nazis wurden sechs Millionen Menschen ermordet, europäische Juden, Sinti und Roma, politische Oppositionelle, Homosexuelle, Zwangsarbeiter und viele andere, die das Unglück hatten, in die Hände der Gestapo und anderer Nazi-Organisationen zu geraten.

„Ermordet“, das klingt eigentlich noch fast verharmlosend. Diese Menschen wurden nicht einfach „ermordet“, sondern auf unsagbar grausame Art zu Tode gequält, wobei sich Individuen in den Arm eines staatlichen Horrorsystems verwandelten, wodurch sie die gesamte Verantwortung für ihr Handeln auf einen mehr oder weniger anonymen Staatsapparat abschoben. Und genau solche Staatsapparate streben heute die Neo-Nationalisten quer durch Europa wieder an.

Eine aktuelle und von Außenminister Heiko Maas zitierte Umfrage zeigt, dass heute 40 % der jungen Deutschen keine Ahnung mehr haben, was der Holocaust war. Das ist das Ergebnis jahrelangen Verdrängens, Beschönigens und des politischen Diskurses der Rechtsextremisten wie Björn Höcke & Co., die seit geraumer Zeit die Sprachwelt der Nazis wieder zu der ihren machen.

Und der greise AfD-Häuptling Alexander Gauland täuscht sich, wenn er meint, dass die tausend Jahre zwischen 1933 und 1945 nur ein „Vogelschiss der Geschichte“ waren – Brunnenvergifter wie die Oberen der AfD sind mit dafür verantwortlich, dass sich die Sprache und damit das Gedankengut der Nazis wieder in Deutschland breit machen kann.

Unmittelbar nach Kriegsende zwangen die Alliierten die deutsche Zivilbevölkerung zum Besuch der KZs. Die Konfrontation mit dem Horror, den das von ihnen so begeistert getragene System verursacht hatte, war für etliche dieser Menschen sehr heilsam. Die Erkenntnis, wie bestialisch der Mensch werden kann, stimmte nachdenklich. Doch heute fehlt diese Konfrontation und das Vergessen dieses Horrors ist gefährlich, denn es erlaubt den Neo-Nationalisten und Neonazis, diese Zeiten erneut zu verherrlichen, die deutsche Kollektivschuld in Frage zu stellen und lauthals zu fordern, dass man diesen Irrweg erneut einschlägt.

Diese Entwicklung beschränkt sich allerdings nicht auf Deutschland. Im Gegenteil, in Deutschland gibt es eine stärkere Gegenbewegung gegen neonazistische Tendenzen als in anderen Ländern, wo die Rechtsextremen zum Teil noch deutlich mehr Erfolg haben als in Deutschland.

Europa muss es nun schaffen, eine Gedächtniskultur jenseits der Paraden von Kriegsveteranen zu erfinden. Dass diese würdevollen Aufmärsche von Veteranen eine ihnen zustehende Ehrung sind, ist eine Sache. Dass diese Art der Veranstaltung jungen Menschen nichts mehr sagt, eine andere. Und wie glaubwürdig sind die ewigen Ansprachen, in denen man sich gegenseitig versichert, dass man „nie wieder so etwas“ zulassen will, während man in Kriege, Waffenlieferung und innere Unruhen wie zu Zeiten der Weimarer Republik verstrickt ist?

Die Gedächtnisarbeit muss sich modernisieren, die Sprache der jungen Menschen sprechen und auf den Plattformen erfolgen, die heute von jungen Menschen frequentiert werden. Die Frage, die sich stellt, lautet „werden wir eine solche Gedächtnisarbeit erfinden können, bevor die Länder Europas in die Hände von Rechtsextremen und anderen Hetzern gefallen sind?“

6 Millionen Opfer verlangen von uns, dass wir anders mit ihrem Gedächtnis umgehen. 6 Millionen Opfer verlangen von uns, dass wir die Hetzreden der Neo-Nationalisten nicht länger achselzuckend unter „freie Meinungsäußerung“ einstufen, dass wir Holocaust-Leugner und Neonazis konsequent verfolgen, dass wir die Zivilcourage entwickeln, laut und deutlich zu protestieren, wenn in unserem Umfeld hetzende Sprüche fallen. Angesichts der Gewalt, die immer mehr Rechtsextreme auf die Straßen Europas tragen, dürfen wir nicht länger den Kopf einziehen und dicht an den Mauern entlang laufen, den Blick auf den Boden gesenkt. Das haben speziell wir Deutsche im letzten Jahrhundert getan und wir sollten es besser wissen als alle anderen, wohin es führt, wenn man angesichts des sich entwickelnden Horrors schweigt. Für „Wehret den Anfängen“ ist es längst zu spät. Nun heißt es, „wehrt euch gegen den drohenden Totalitarismus, der sich wie ein Schatten auf ganz Europa zubewegt.“

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