Wir faulen Sünder – Rheinoper Straßburg gewährt Ablass

„Wer sündigt, werfe den ersten Stein“, muss man heute sagen, wenn man einen Steinhagel verhindern will. Denn wir sind frei von Sünde, aber nur deshalb, weil wir nicht mehr an das Konzept der Sünde glauben. Die Rheinoper Straßburg belehrt uns ab Sonntag eines Besseren, wenn uns die „Sieben Todsünden des Kleinbürgers“ von Brecht und Weill vorgeführt werden.

Zeitgenössische Oper im Elsass - sehenswert! Foto: Opéra National du Rhin - Klara Beck

(Michael Magercord) – Der Mensch ist ein Sünder, von Natur aus. Denn der Mensch ist ein kulturell bestimmtes Wesen und damit auch eines mit Moral. Die allerdings ist manchmal etwas übermenschlich in ihren Forderungen an ein sündenfreies Dasein, zumindest, wenn die von noch von Gott persönlich kommen. Sich dagegen ab und an zu versündigen, ist dann schon wieder natürlich – kurz: nur ein Sünder ist ein wahrer Mensch.

Im Mittelalter war es noch ein Leichtes, wahrer Mensch zu sein. Die Sünde lauerte überall, streng war der Katalog der Sündenfälle, da fand sich immer was. Schließlich wurde mithilfe der Sünde ein erstes psychologisches Konstrukt des Menschen erstellt. An Zeichnungen von Moralstammbäumen konnte man genau ablesen, in welcher Todsünde welches Seelenleiden wurzelt. Also mal abgesehen davon, wie viele Jahre Fegefeuer man sich durch Sündenvermeidung ersparte, konnte die gepeinigte Seele genau ablesen, woher ihr Leiden rührte.

Und heute? Die Moral, das wissen wir Nach-68er nur zu gut, passt sich an ihre Zeiten an: Sünde ist, was man dafür hält. Und weil wir nun einmal in modernen Zeiten leben, müssen auch unsere Sünden modern sein. Doch die meisten unserer Sünden sind so unbedeutend, die schaffen es gar nicht mehr auf der Liste der Todsünden: Ein Stückchen Schokolade zuviel zu futtern, zählt im Himmel ebenso wenig als Sünde, wie Joggen oder gesunde Ernährung bei Petrus als „gute Taten“ durchgingen. Die Empfehlungen der Krankenkassen sind dort droben – leider – nicht der Maßstab.

Es ist also heutzutage gar nicht so leicht, noch ein wahrer Mensch zu sein und anständig zu sündigen. Die klassische Moral der Todsünden lässt sich nur unzulänglich in moderne Zeiten übertragen. Das hatten Brecht und Weill versucht, als sie 1933 ihre Sündenversion für den Kleinbürger in Paris auf die Bühne brachten. Zwar orientiert sich ihr „Gesungenes Ballett“ über eine Kleindarstellerin in Hollywood an dem klassischen Sündenregister und ihre Hauptfigur leidet auch gegen die Verstöße und deren Folgen, ja sie wird sich später geläutert in ihr bescheidenes Leben fügen, doch zeigt uns dieses Spiel mit der Sünde in der Moderne, dass wir gar keine echten Sünder sind.

Zur Todsünde fehlt uns nämlich das Bewusstsein, überhaupt eine Sünde zu begehen. Ein Sünder – so hatte Johannes Paul II. formuliert – muss „den Bund der Liebe, den Gott ihm anbietet, zurückweisen, indem er es vorzieht, sich nur sich selbst zuzuwenden oder irgendeiner geschaffenen und endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen Willen steht“. Dazu müsste man erst einmal wissen, was denn göttlicher Wille ist, doch wer würde heutzutage noch für sich beanspruchen, das zu wissen? Die Chancen, ein Sünder zu sein, sind sehr gering geworden, und somit auch die Aussicht, ein wahrer Mensch zu werden. Höchste Zeit also, sich endlich einer Sünde hinzugeben! Sieben Todsünden gibt es, da wird sich ja wohl noch eine passende finden lassen, die selbst in unserer endlichen Wirklichkeit noch eine ist.

Wie wäre es mit der Nummer Eins: Hochmut. Der kommt ja bekanntlich vor dem Fall, doch wissen wir nur zu gut, dass in unseren Zeiten die Hochmütigen nicht fallen. Das bleibt meist ein frommer Wunsch jener, die den Hochmut erleiden müssen. Geiz ist geil – der fällt als Sünde völlig aus, ist heute eher eine Überlebensstrategie. Die Wollust kommt in jüngster Zeit wieder etwas als Sünde in Mode, insgesamt aber überwiegt die Vorstellung, man befreie sich von biederen Zwängen, sobald man sich ihr hingibt. Jähzorn, die Nummer Vier – hatte nicht erst vor kurzem ein besonders moderner Philosoph beklagt, die Austreibung des produktiven Zorns lähme die Kultur, und dafür geworben, die aufwallende Zornesenergien kollektiv zu nutzen? Und der Völlerei frönen und sich sündig fühlen? Wer zuletzt rülpst, rülpst am besten… Wäre noch der Neid, nur ist der ausgerechnet die Grundlage aller demokratisch organisierten Sozialstaaten. Ohne ihn säßen die Aristokraten und Feudalherren immer noch in ihren Palästen. Wir haben im Gegenteil den demokratisierenden Neid auf die wirklich zu Beneidenden in den letzten Jahren etwas schleifen lassen. Stattdessen neideten sich die wenig zu Beneidenden untereinander, wodurch sich erst so manche soziale Grausamkeit in ihren Hütten einnisten konnte.

Somit bleibt in diesen rauen Zeiten also nur noch eine Todsünde übrig, ausgerechnet die sanfteste unter ihnen, die Faulheit. Und tatsächlich, Faulheit ist die einzige der sieben Todsünden, die uneingeschränkt auch heute noch als schwere Verfehlung gilt: Es gibt kein Recht auf Faulheit, jawoll ja! Selbst die Apologeten des bedingungslosen Grundeinkommens verweisen immer darauf, dass dessen Bezieher nicht faul in der Ecke sitzen würden, sondern im Gegenteil besonders motiviert und kreativ tätig wären.

Gleichzeitig ist Faulheit der Teil des Menschenganzen, der gerade seit der industriellen Revolution sträflich vernachlässigt wurde. Eine Sünde, die perfekt in unsere Zeit passt wie keine andere: Problem mit Umweltverschmutzung und Klimawandel durch die Überproduktion? Immer schön faul bleiben und Problem gelöst! Angst vor dem Verlust der Arbeit durch der Digitalisierung und Robotik? Wenn sich alle ausreichend der Faulheit hingeben, brauchen wir nur noch halb so viele Arbeitsplätze! Fleißig geht die Welt zugrunde, der Faule hingegen ist der wahre moderne Mensch: er ist frei und lässt sich von Niemandem mehr sinnlos antreiben, er ist mündig und bestimmt selbst, was er für wichtig hält, und nur im Faulsein geht es gerecht zu, denn im faulen Zustand sind alle Menschen gleich – süße, sanfte und moderne Sünde Faulheit!

Wer noch nicht ganz davon überzeugt ist, sollte wenigstens einen Abend lang das heimische Sofa mit dem Sessel in der Rheinoper eintauschen. Neben den sieben Todsünden des Kleinbürgers wird dem Zuschauer mit dem Songspiel Mahagonny auch gleich noch das Brecht/Weill’sche Sodom und Gomorra aus dem Jahre 1927 vorgeführt, wo ein jeder nur noch seiner eigenen Moral gehorcht – eine Welt ohne Sündenbewusstsein, also ohne Sünde, die folgerichtig zum Untergang verdammt ist. Und zwischendrin geht es weitere fünfzehn Jahre zurück: im Liederzyklus Pierrot Luniare nach Gedichten des Belgiers Albert Giraud geht es über Sündiges – Sex, Blasphemie, Verbrechen, den Arnold Schönberg nach eigener Aussage in Klänge von „geradezu tierisch unmittelbarem Ausdruck sinnlicher und seelischer Bewegungen“ gesetzt hat. Das war vor gut hundert Jahren noch so sündhaft und gleichsam so entlarvend, dass es zum Skandal führte. Vielleicht wähnten sich die Zuhörer durch ihre aufgewühlten Gefühle der Sünde überführt? Jedenfalls ließ sich der Komponist nach Tumulten im Prager Konzertsaal Rudolfinum für zukünftige Aufführungen eine „Garantie für ein störungsfreies Musizieren“ in die Konzertverträge schreiben. Das zumindest dürfte wohl heute, wo wir eher danach streben sollten, wieder etwas mehr zu sündigen, nicht mehr nötig sein.

MAHAGONNY – EIN SONGSPIEL (1927)
Kurt Weill – Bertolt Brecht

PIERROT LUNAIRE (1912)
Arnold Schönberg

DIE SIEBEN TODSÜNDEN (1933)
Gesungenes Ballett von Kurt Weill und Bertolt Brecht

Orchestre symphonique de Mulhouse

Musikalische Leitung: Roland Kluttig
Regie: David Pountney
Choreografie: Amir Hosseinpour und Beate Vollack

Strasbourg – Opéra
SO 20 Mai, 15.00 Uhr
DI 22. Mai, 20.00 Uhr
DO 24. Mai, 20.00 Uhr
SA 26. Mai, 20.00 Uhr
MO 28. Mai, 20.00 Uhr

Colmar – Théâtre municipal
DI 5. Juni, 20.00 Uhr

Mulhouse – La Sinne
MI 13 Juni, 20.00 Uhr
FR 15. Juni, 20 Uhr

Infos und Tickets unter: www.operanationaldurhin.eu

Weiterführende sündige Links:

Zwei Todsünden hat der Straßburger Philosoph André Rauch in seinen Büchern untersucht:
http://www.armand-colin.com/andre-rauch
…die Faulheit auch auf Deutsch:
Text: http://www.deutschlandfunk.de/faulheit-todsuende-oder-tugend.1184.de.html?dram:article_id=332894
Ton: https://www.youtube.com/watch?v=o8W_5mpg82g

Den ersten Ansatz einer Theorie der Faulheit finden Sie hier:
https://seidmodernseidfaul.wordpress.com/2015/02/22/inhalt/

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