Wir geben nicht auf – Ballett beginnt Spielzeit der Rheinoper
Nach der Saisoneröffnung der Oper vor bald drei Wochen erfolgt nun der Start in die Spielzeit der Ballettabteilung der Rheinoper. Strawinsky und Liszt sind die Komponisten, die den Takt für den Auftakt zum großen Auftritt ab dem 3. Oktober in Straßburg, Colmar und Mülhausen vorgeben.
(Michael Magercord) – Die Rheinoper bereitet dem Ballett zumindest in dem laufenden Jahr 2024 die große Bühne. Denn während der Opernbetrieb des elsässischen Zwei-Sparten-Hauses mit einer theaterhaften Kammeraufführung eher sparsam in die Spielzeit startete, legt sich die Tanzabteilung mächtig ins Zeug. Zu ihrer ersten Darbietung der Saison wiegen sich nicht nur die hauptangestellten Tänzer auf der Bühne, sie werden zudem begleitet von vier Pianisten, dem Chor der Rheinoper und vier Sängern des Opernstudios, und als Taktgeber wird niemand Geringeres als das weithin bekannte Ensemble der „Percussions de Strasbourg“ fungieren.
Mit diesem Aufgebot werden zwei Choreografien dargeboten. Direktor Bruno Bouché wird uns mit einer eigenen Kreation den Weg zu den Engeln bahnen — zumindest soweit das Ballett in der Lage ist, die Himmelsleiter, die Jakob in der alttestamentarischen Genese im Traum aufrichtete, auf die Bühne zu zaubern. Bei diesem Unterfangen mit dem Titel „Wir geben nicht auf“ ist den vier Tänzern die Klaviersonate in g-Moll von Franz Lizst die musikalische Stütze.
Im zweiten Teil des Abends wird sowohl höchstklassisch als auch hochmodern. Denn ein Klassiker der Ballettmusik kommt in einem neuen Gewand daher, wenn die kanadische Choreografin Helene Blackburn Igor Strawinskis wilde russische Bauernhochzeit neu inszeniert.
„Die Hochzeit“ – welch ein Werk! Chor, Rhythmusgruppe, vier Solostimmen, vier Klaviere. Es dauerte zehn Jahre, bis aus den ersten Entwürfen und Liedern diese Version feststand. Strawinsky versuchte so manche Varianten: vielleicht mit Orchester? Oder doch ein Zimbalom, das russische Bauerninstrument? Oder eher Pianola? Welche folkloristischen Lieder könnten noch passen, welche Stimmen… Schließlich hat er sich entschieden, und das Stück wurde 1923 vom russischen Ballett in Paris unter der Leitung der russischen Choreografin Bronislava Nijinska endlich uraufgeführt.
Vierzig Jahre später erinnert sich der Komponist: „Als ich Diaghilev die Hochzeit vorspielte, weinte er: Es sei das schönste und russischste, was unser Ballett jemals aufgeführt hat“. Und das wildeste: Selbst der pentatonische Gesang muss sich der reinen Rhythmik unterwerfen, die nur deshalb eine ist, weil sie sich auf tradierte Muster stützt – egal, ob sie ihnen folgt oder sie bewusst konterkariert. Der Musikwissenschaftler Wilfried Mellers sah in der Hochzeit ein für sich stehendes Werk, das weder europäisch sei, noch ins 20. Jahrhundert gehöre: „Es könnte von einem anonymen balinesischen Komponisten stammen“. Strawinski selbst erkannte in seiner allen bekannten abendländischen symphonischen Prinzipien fernen Kompositionen „eine Antwort auf das zerstörte Selbstbewusstsein der modernen Welt“.
Die erste Interpretation als Tanztheater der russischen Paris-Exilantin Bronislava Nijinska ließ die musikalischen Szenerien in einem traditionellen Umfeld aufleben. An der Wildheit werden die Zwänge des russischen Dorflebens gespiegelt. Die Pflicht zu heiraten, die den Mädchen auferlegt ist, wurde in einem Bühnendunkel und einfachen Kostümen zum Ausdruck gebracht, und die Figuren wandelten bei aller Wildheit auf immer denselben ausgetretenen Pfaden.
Im Nachhinein nannte man diesen Ansatz protofeministisch, also als antizipierten Feminismus, noch bevor es ihn offiziell gab. Heute hingehen gibt es schon so manche, die vom Postfeminismus sprechen. Die Choreografin der neuen Straßburger Aufführung will, so weit wir es vorausahnen können, aufzeigen, dass alte Zwänge nach wie vor walten. Und sollte dabei herauskommen, dass diese, nennen wir sie einmal modern „gesellschaftliche“ Zwänge letztlich immer alle Beteiligten – egal welchen Geschlechts und welcher Herkunft – einzwängen, würde man vielleicht einen Erkenntnisgewinn erzielen, der dem modernen Selbstbewusstsein durchaus wieder zuträglich sein könnte.
Aber vielleicht ist ein so hoher Bedeutungsdruck ohnedies zuviel, was man von einem Ballettabend verlangen darf. Auf jeden Fall wird es ein großangelegter Einstieg in die Saison sein, in der das hauseigene Tanzensemble nun, wo der Operbetrieb etwas abgespeckter daherkommen muss, auch an der Straßburger Spielstätte der Rheinoper eine größere Rolle als bisher einnehmen darf.
Noces
Ballett der Rheinoper
„Nous ne cesserons pas“ von Bruno Bouché
„Noces“ von Hélène Blackburn
mit u.a. Ballett und Chor des Opernstudios der OnR, Percussions de Strasbourg
Opéra Straßburg
DO 3. Oktober, 20 Uhr
FR 4. Oktober, 20 Uhr
SO 6. Oktober, 15 Uhr
MO 7. Oktober, 20 Uhr
Colmar Theatre municipal
SA 12. Oktober, 20 Uhr
(dort nur das Klavier live)
Mülhausen La Filature
FR 18. Oktober, 20 Uhr
SO 20. Oktober, 15 Uhr
Tickets und Information gibt’s hier.
Folgende Ballett-Veranstaltung:
Nussknacker – Tschaikowski
ab 6. Dezember in Straßburg
Und dazu noch eine CD-Empfehlung:
„Dorfgeschichten“ ist die CD mit der Einspielungen von Werken gestandener Komponisten der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich immer wieder von der Volksmusik ihrer Heimat inspirieren ließen: Leos Janacek aus Mähren, Bela Bartok aus Ungarn und Strawinski, der mit seiner „Hochzeit“ in dieser Sammlung aus dem Schatzkästchen der modernistischen Folklore vertreten ist. An der Aufnahme sind versierte Sänger und Musiker aus Tschechien beteiligt. Lob für die auch sehr schön gestaltete CD gab’s vom BBC und den französischen Fachblättern Crescendo, Gramophone und Classica.
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