#wirsindmehr – schön wär’s…

Glücklicherweise regt sich der Widerstand gegen die neonationalistische Stimmung im Land. Unglücklicherweise sind wir aber eben nicht mehr…

Bilder wie in den 30er Jahren... Chemnitz grüsst den Rest der Welt. Foto: ScS EJ

(KL) – Die Zahlen sprechen eine nüchterne Sprache. Zur samstäglichen Kundgebung der neonationalistischen Gruppen in Chemnitz kamen 8000 Menschen. Zur Gegendemo „Herz statt Hetze“ kamen 3000. #wirsindmehr stimmt also nicht so richtig, denn die Mehrheit auf der Straße gehört inzwischen den gewaltbereiten Neonationalisten und deren stummen Unterstützern. Auch die Umfragen sind besorgniserregend – der parlamentarische Arm dieser identitären Brandstifter, die AfD, ist überall im Aufwind. Nicht nur in Sachsen, dem Bundesland, das bereits zu DDR-Zeiten das „Tal der Ahnungslosen“ genannt wurde (weil man dort kein Westfernsehen empfangen konnte. Was dann auch der Beweis wäre, dass Westfernsehen nicht unbedingt den zivilisatorischen Fortschritt bringt…), sondern in ganz Deutschland hat die AfD Rückenwind. Wohin driftet Deutschland nur gerade?

Rechtsextreme Wirrköpfe gibt es, seit es die Bundesrepublik gibt. Waren es zunächst noch die alten Seilschaften, die sich in den 50er und 60er Jahren noch gegenseitig die Steigbügel hielten, waren es später ewiggestrige Träumer, die meinten, dass in der BRD das Nationalistische zu kurz käme. Doch handelte es sich immer nur um kurz aufflackernde Phänomene, kleine, regionale Wahlerfolge von ultrarechten Gruppen und Grüppchen, die sich dann auch gleich wieder von selber regelten, wenn diese Gruppe einmal ein paar Sitze in einem Landesparlament gewannen. Schon bei der jeweils nächsten Wahl verschwanden diese Rechtsextremen dann auch direkt wieder aus den Parlamenten, verjagt von der Selbstreinigungskraft der Demokratie.

Auf diese „Selbstreinigungskraft“ der Demokratie verlassen wir uns seit einigen Jahrzehnten. Warum auch nicht? Sie hat ja immer funktioniert und rechtzeitig das Gespenst der Rechtsextremen verjagt. Nur – diese „Selbstreinigungskraft“ funktioniert nicht mehr. Die Regierungsparteien (und danke, wenn Sie den Begriff „Altparteien“, den die AfD systematisch verwendet, aus Ihrem Vokabular streichen. Der Ausdruck stammte von Goebbels…) haben derartig an den Interessen der Bevölkerung vorbei gearbeitet, dass der Wunsch nach Veränderung so groß ist, dass auch Extremisten ihre Chance bekommen. Und genau das passiert gerade in Sachsen und droht, sich von Sachsen aus über ganz Deutschland auszubreiten.

Nein, #wirsindnichtmehr. Genau das ist das Problem. Uns fehlt dabei auch etwas der Gesamtüberblick. Wenn man sich nur unter Menschen bewegt, die Neonationalismus und Gewalt ablehnen, dann hat man das Gefühl, die Gesellschaft bestünde mehrheitlich aus strammen Antifaschisten. Aber dieser Eindruck trügt. Die anderen sind inzwischen mindestens genau so viel. 8000 in Chemnitz am Samstag und 3000, die zeigen wollten, dass Chemnitz nicht mehrheitlich aus gewaltbereiten Neonationalisten und deren Unterstützern besteht. Dass es nicht mehr möglich ist, an den Brandherden der Demokratie mehr Menschen GEGEN diesen gewalttätigen Neonationalismus zu mobilisieren als DAFÜR, ist beunruhigend. Gewiss, in vielen Städten kam es zu Demonstrationen, Märschen, Kundgebungen, doch das reicht schon nicht mehr.

In Teilen Deutschlands herrscht ein Klima der Gewalt und der Angst in den Straßen. Die politische Gewalt findet ihren Ausdruck in militanten Aktionen und einer Präsenz in den Straßen, die Angst verbreiten will und verbreitet. Im Wissen darum, dass die Strafverfolgung krimineller Handlungen der Extremisten durch Polizei und Justiz nicht gerade als engagiert bezeichnet werden kann, wird dieser Terror nicht weniger, sondern noch präsenter werden.

Die nächsten Landtagswahlen in Bayern und Hessen sowie die Europawahlen werden richtungsweisend werden und man muss mit dem Schlimmsten rechnen. Nicht nur, dass wir wohl zum ersten Mal ein Europäisches Parlament erleben werden, in dem die Mehrheit europaskeptisch oder offen europafeindlich ist, nein, das Parlament wird auch die neonationalistischen Strömungen in vielen Ländern widerspiegeln, auch diejenige in Deutschland.

Die Gefahr ist real. Damit #wirsindmehr Wirklichkeit werden kann, muss man jetzt Stellung beziehen. Man kann nur noch für oder gegen diesen braunen Pöbel sein, der nicht etwa politische Meinungen vertritt, sondern zu Hass, Rassismus und Neonationalismus aufruft. Wie sagte die junge Frau im Interview im Fernsehen? „Nur weil ich national eingestellt bin, muss ich ja noch kein Nazi sein. Vor allem, weil ich ja auch sozial eingestellt bin. National und sozial.“ Noch Fragen?

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