Wo bleibt der deutsche Aufschrei?
Die erneute Verlegung der Straßburger Sitzungswoche des Europäischen Parlaments ist nicht nur Corona-bedingt. Es ist höchste Zeit, dass sich die deutschen Europaabgeordneten zu Wort melden!
(KL) – Vorweg – die sanitäre Situation in Brüssel ist keinen Deut besser als in Straßburg und man muss schon sehr naiv sein, um in dieser erneuten Verlegung keinen Versuch zu sehen, das Parlament still und heimlich dann doch nach Brüssel zu verlagern. Nur – dies ist a) völlig undemokratisch, b) nicht in den Europäischen Verträgen vorgesehen und c) ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die in Europa mehr sehen als nur einen Erfüllungsgehilfen für „Big Business“. Entscheidet sich die Zukunft Europas an der Frage des Sitzes des Parlaments?
Erinnern wir uns kurz zurück – in Straßburg widerfuhr Deutschland die großzügigste Geste des letzten Jahrhunderts. Hier fand die deutsch-französische Aussöhnung statt, hier wurde Deutschland wieder in die europäische Völkerfamilie integriert. Dass sich die beiden europäischen „Supermächte“ am Rhein und an der Ill wiederfanden, war das Verdienst großer Europäer wie Charles de Gaulle, Konrad Adenauer (doch, doch!), Winston Churchill oder auch Robert Schuman und vielen anderen. Ganz bewusst wählte man Straßburg als Sitz der ersten europäischen Institutionen, die Stadt, in der das Kunststück geschafft wurde, den II. Weltkrieg zu überwinden und in der Europa Deutschland gestattete, aus Nazi-Deutschland wieder Deutschland zu werden. Wie ist es möglich, dass deutsche Europaabgeordnete nicht aufspringen und sich eindeutig gegen den Versuch zur Wehr setzen, aus Brüssel die Hauptstadt der institutionalisierten Korruption zu werden (naja, eigentlich ist Brüssel das schon längst). Ist es Lobby-Europa wirklich wert, die europäische Gewaltenteilung, Merkmal jeder Demokratie, einfach auszuhebeln?
Genau diese Missachtung der Gewaltenteilung macht den Versuch, alle entscheidenden Institutionen in Brüssel zu konzentrieren, zu einem Anschlag auf die Demokratie. Dabei ist die Situation im Grunde einfach – die Europäischen Verträge mit ihren Zusätzen haben Straßburg zum Sitz des Europäischen Parlaments gemacht. Straßburg, und nicht etwa Brüssel. Punkt. Insofern kann man durchaus die Forderung nach einem „Single Seat“ unterstützen, nur dass dieser nicht in Brüssel zu sein hat, sondern in Straßburg.
Um die 30.000 Lobbyisten tummeln sich in Brüssel und schon lange weiß man, dass diese hoch bezahlten Lobbyisten sogar die Texte für die europäischen Richtlinien und Verordnungen texten, die dann von Kommission und Parlament nur noch abgenickt werden. In Brüssel schaffte es Volkswagen, einen Text durchzubringen, der sehr großzügig die Grenzwerte für Emissionen für Transporter-Fahrzeuge festlegte. Geschrieben wurde der Text, wie sich durch eine Unachtsamkeit der Autoren herausstellte, von Volkswagen selbst. Auch die Chemie-Industrie ist blendend in Brüssel vertreten – so erhielt Monsanto eine Verlängerung für den Vertrieb des Produkts „Round Up“, von dem sich rund 80 % der Europäer*innen ein Verbot wünschen würden. Aber in Brüssel regiert man gerne am Willen der 500 Millionen Europäer*innen vorbei – Hauptsache, man kann sich für die vielen großen und kleinen Geschenke der Lobbyisten revanchieren. Straßburg steht für das genaue Gegenteil – hier treffen die Europaabgeordneten in der einzig demokratisch gewählten Versammlung in Europa ihre Entscheidungen, ohne dabei den Druck der Lobbyisten im Nacken zu haben. Und genau das passt „Big Business“ nicht – es ist einfacher, politischen Druck dort auszuüben, wo man alle Entscheider zusammen hat.
Weder Angela Merkel, noch Emmanuel Macron haben auf diesen erneuten Affront für Straßburg reagiert. Die deutsche Europapolitik hat peinlich betreten zur Seite geschaut, da viele der deutschen Europaabgeordneten ebenfalls Brüssel-Fans sind. Aber der Sitz des Parlaments hängt nicht von der Qualität des Nachtlebens ab, sondern ist eine bewusste, demokratische Wahl gewesen. Wie schade, dass Straßburg die letzten 12 Jahre mit eitlem Europageschwätz und vielen, vielen Reisen verplempert hat. Jetzt heißt es alle Kräfte zu mobilisieren, damit Straßburg den Status einer Europahauptstadt behält. Denn dieser Status ist heute gefährdeter als je zuvor.
Es ist unfassbar wie Politiker in aller Öffentlichkeit mit Recht und Verträgen umgehen. Es ist unfassbar, wie die deutsche Seite mit hängenden Armen alles mitmacht – nicht selten aktiv mit vorantreibt. Es ist unfassbar, wie aus unsrem demokratischen System jegliche Opposition vollständig verschwunden ist. Die von Jeanne Barseghian geforderte Demokratisierung der Demokratie, die ihr zu Recht den Sieg bei den Wahlen in Straßburg eingebracht hat, ist längst eine Forderung die auf allen Ebenen zu stellen ist. Unter den deutschen Parteien ist leider keine einzige zu finden die hier Besserungen verspricht.
Keine Zweisprachigkeit, kein Europa. Einsprachigkeit ist der Analphabetismus des 21. Jahrhunderts. Unsere Stadt Straßburg muss sich zu einem freien Elsass bekennen, aus der Pseudo-Region “Grand-Est” heraustreten und unser “Elsässerditsch” bzw. desen Standartvariante als zweite Amtsprache erkennen. Es lebe ein freies Elsass im Herzen eines vereinten Europas. Los von Metz (Grand Est). Nieder mit dem Pariser Zentralismus. Unser Land, unser Recht !