Wo soll das eigentlich hinführen?

Die „Gelbwesten“ sind am Scheideweg angekommen – sie könnten soziale Fortschritte mit der Regierung aushandeln oder an der Gewalt einiger in ihren Reihen scheitern.

"Dqs sind keine 'Gelbwesten'", sagen die "Gelbwesten". Aber was sind diese Leute dann? Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Ist Frankreich auf dem Weg ins Chaos? Am Samstag demonstrierten ungefähr 0,4 % der französischen Bevölkerung, was die breitbrüstige Behauptung „wir sind das Volk“ ein wenig seltsam klingen lässt, vor allem, wenn man an die Hunderttausenden friedlicher DDR-Bürger denkt, die für die Öffnung der Mauer demonstrierten. Diese DDR-Bürger waren das Volk, die „Gelbwesten“ sind ein Teil des französischen Volks, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die nächsten Wochen werden zeigen, wohin sich die „Gelbwesten“ entwickeln – und dabei spielt die Haltung eines Mannes eines besondere Rolle: Emmanuel Macron.

Die „Gelbwesten“ sind eine bunte Mischung aus Menschen, die völlig zu Recht fordern, dass sich ihre soziale Existenz verbessert, aus Menschen, die sich die VI. Französische Republik wünschen, aus Menschen, die Zeit haben, Straßenkreuzungen zu blockieren, aus Menschen, die Frankreich aus der EU herauslösen möchten, aus Menschen, die eine höhere Kaufkraft wollen, aus Menschen, die sich eine Art „Volks-Diktatur“ wünschen, aus Extremisten, Unzufriedenen und leider auch Antisemiten und anderen Zeitgenossen, die wissen, warum sie ihr Gesicht vermummen, wenn sie auf eine Demonstration gehen. Dass es sich also um eine Art buntester Mischung aller Couleur handelt, kann man den „Gelbwesten“ nicht vorwerfen – doch man muss ihnen vorwerfen, dass sie offen bis klammheimlich jede Woche die Stimmung für die Demonstrationen am Wochenende aufheizen, die dann auch regelmäßig Schauplatz für Szenen der Gewalt sind.

Natürlich wäre es ein Fehler, würde man eine breite soziale Bewegung als „gewalttätig“ abstempeln. Doch geraten die „Gelbwesten“ immer mehr in die Lage, in der sie die Geister, die sie riefen, nicht mehr loswerden. Am Samstag zeigte sich das besonders bei der Demonstration in Paris, bei der Schläger in Gelb wunderbar in der Menge eigentlich friedlicher Demonstranten abtauchten, die damit nolens volens eine Art „Schutzschild“ für eben jene Schläger bildeten, die gerade dabei sind, das Bild dieser Bewegung nachhaltig zu prägen.

Es stimmt, zu Beginn dieser Bewegung erklärten sich rund drei Viertel der Franzosen solidarisch mit den originären Forderungen der „Gelbwesten“. Deutliche Erhöhung des Mindestlohns, deutliche Anhebung der Renten, Wiedereinführung der „Reichensteuer“ ISF – das waren Forderungen, die fast jeder verstehen, nachvollziehen und unterstützen kann. Doch täuschen sich die „Gelbwesten“, wenn sie meinen, dass ebenso viele Franzosen die Gewalt auf der Straße gutheißt, die von kriminellen Mitläufern getragen wird und der die „guten Gelbwesten“ genauso hilflos gegenüber stehen wie der Rest des Landes.

Die Zeit spielt gerade gegen alle. Denn während die Regierung ein geradezu skandalöses Verhalten an den Tag legt, sich immer noch mit taktischen Spielchen beschäftigt, statt ernsthaft an der Verbesserung der Lage der sozial Schwächeren zu arbeiten, wird angesichts der Orgien der Gewalt und vor allem der Verhaftungswelle vom Wochenende auch die Stimmung in der Bevölkerung umkippen. Und eines ist klar – diese Protestbewegung kann in dieser Form nicht ewig andauern – unter den Blockaden und anderen Behinderungen leiden vor allem kleine Firmen, Geschäfte, der Mittelstand, von dem in Frankreich wie in anderen Ländern der größte Teil der Arbeitsplätze abhängt. Einige Regionen legen bereits „Notprogramme“ auf, um kleinen und mittelständischen Unternehmen zu helfen, die aufgrund der Aktionen der „Gelbwesten“ in Schieflage geraten und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entlassen müssen. Die Gefahr besteht, dass sich eines Tages nicht nur die Polizei mit den „Gelbwesten“ auseinandersetzen wird, falls diese für Entlassungen und mehr Armut im Land sorgen.

Und – während sich die „Gelbwesten“ nicht organisieren und darauf verständigen können, was sie eigentlich realistischerweise fordern wollen, sollen und können, breiten sich immer mehr Extremisten in dieser Bewegung aus – von Antisemiten bis zu braunen und dunkelroten Volksverhetzern ist alles dabei. Diese sind erstaunlich gut organisiert und träumen vom Staatsstreich. Wenn die Regierung künftig mit solchen extremistischen Ansprechpartnern an einem Tisch sitzen möchte, dann sollte sie weiter auf Zeit spielen. Doch das könnte fatale Folgen haben.

Letztlich machen alle den gleichen Fehler, indem sie sich selbst überschätzen. Präsident Macron hält sich tatsächlich für Louis XVII., der über sein Volk herrscht und dieses dabei abgrundtief verachtet, die „Gelbwesten“ halten sich für das Volk, das seinen Monarchen einen Kopf kürzer machen will. Doch beide Seiten täuschen sich – Macron ist kein gottgleicher Kaiser und die „Gelbwesten“ sind nicht das Volk. Und wenn sie so weitermachen, werden sie beide von der Bildfläche verschwinden.

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