Worte finden für die Zeit danach: Corona – und dann?

Das wilde Denken? Derzeit ist das Denken – und nicht erst seit Corona – sowieso aus dem Ruder gelaufen. Aber warum auch nicht einmal für eine Weile wild denken, wenn es doch eh bald wieder gezähmt wird – doch nun aber richtig.

Welche Farbe hat das Virus? Symbolik in Grün... Foto: HFCM Communicatie / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – Wild gedacht ist halb gedacht – und doch der Anfang allen Denkens, „Spekulieren“ nannte man das noch im Mittelalter. Wir wurden zwar inzwischen aufgeklärt von der Philosophie der Vernunft, und doch spekulieren wir heute wieder mehr denn je: Wie wird es weitergehen, wenn es wieder weitergeht? Wie wird die Welt sein, in die wir dann aus unserer häuslichen Quarantäne entlassen werden? Eine andere? Eine bessere gar? Oder wird es wenigstens wieder so schön wie zuvor? Oder genauso, nur noch schlimmer, weil sich mal wieder nichts geändert hat?

Das Ende für Frankreich ist verkündet: Am 11. Mai sollen wir langsam wieder ins Leben entlassen werden. Es ließe sich nun trefflich spekulieren, ob der 8. Mai dafür ein nicht viel geeigneteres Datum gewesen wäre? 75 Jahre Kapitulation, Ende Zweiter Weltkrieg – ach, wie wunderbar symbolisch, wo wir uns doch laut der von Präsident Macron bemühten Symbolik im Krieg befinden. Und man darf ja nicht vergessen: Wenn – wie ja immer und wohl zu Recht behauptet wird – Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie ist, dann ist Politik wohl mindestens zu 75 Prozent Symbolik. Und wenn wir nun wild darüber spekulieren, wie es politisch und gesellschaftlich in der Nachkriegszeit weiter gehen wird, sollten wir uns besser schon jetzt darüber im Klaren sein, dass wir selbst als wildeste Denker trotzdem zum überwiegenden Teil in symbolischen Begriffen denken.

Worauf wird es also ankommen, wenn sich unser Denken wieder in halbwegs geordnete Bahnen fügen soll nach diesen wilden Tagen, um den Herausforderungen der Krisenzeiten nach dem Virus gewachsen zu sein? „Krise“ beschrieb in seinem altgriechischen Wortursprung eine Periode offener Probleme, in der sich auf die brisanten gesellschaftlichen Fragen einfach keine Antworten finden ließen. Und die wichtigsten Fragen stehen ja nicht erst seit Corona zur Beantwortung an: Der Umgang mit dem Virus zeigt doch nur im Zeitraffer, was in der Klimakrise noch auf uns zukommen wird.

Nach dem Virus ist vor der Hitzewelle – Die Parallelen zwischen Corona und Klima sind einfach zu stark und somit zu verlockend, um sie nicht zu ziehen: Globale Auswirkung; Lebensstilumstellung zu weniger Konsum und weniger Mobilität; Suche nach effektiven technischen Lösungen; Prioritätenwechsel der Wertigkeit bestimmter Typen von Arbeit; Generationenfrage – um einige Stichworte zu nennen, über die es nun zu reden gilt. Aber wie? Käme es nicht zunächst darauf an, endlich einmal die richtigen Fragen zu stellen? Vielleicht würden sich dann die passenden Antworten schon finden lassen, und wer weiß: möglicherweise sind die Lösungen so mancher Probleme dann sogar verblüffend einfach gelagert, wenn man vorab die wirklich wichtigen Fragen gestellt hatte.

Auf die Begriffe wird es dabei ankommen, und damit auf den Umgang mit den Symbolen, die sich hinter den Begriffen verbergen. Was ist ein Symbol? Wieder können die alten Griechen helfen: Ein „Symbol“ war eine Scherbe, die gegenüber Behörden als Identitätsnachweis galt. Ein Tonstück wird zerbrochen, jede Seite behält ein Stück. Fügen sie sich später wieder nahtlos zusammen, ist die Identität gegenüber dem Amt bezeugt. Und schon in der Antike erweiterte sich die Bedeutung des Scherbensymbols: Der Mensch bleibt ein Bruchstück, ebenso sein Denken, dass im Symbolischen verbleibt und sich der Realität bestenfalls annähern kann.

Sinnsuche in der Wirklichkeit der Symbole – Symbole sind Platzhalter für Ansprüche oder Haltungen, die sich nicht immer umgehend einfordern oder ausdrücken lassen. Nur können sich Symbole und ihre Begriffe auch verselbstständigen und ihr stellvertretender Gehalt zu einer eigenen Realität werden. Und ist es nicht das, was im Abendland geschehen ist während des Übergangs vom Mittelalter ins Zeitalter der Aufklärung, als der moderne Mensch mündig wurde? Seither nämlich erteilt nicht mehr ein Herrgott den Sinn des Seins, sondern ein jeder muss sich nun ohne himmlischen Beistand seinen Reim auf die Welt machen. Die Begriffe, derer er sich seither dazu bedient, stammen aus religiösen Sphären, doch in der modernen Weltanschauung wurden sie zu moralischen Handlungsanweisungen.

„Denken in moralisierender Bedeutung ist nichts weiter, als die Verwaltung von überlebten Projekten und Visionen“, sagt der Straßburger Jean-Luc Nancy, und dieser wilde Denker zählt drei symbolische Begriffe auf, die das klare Denken vernebeln: Gerechtigkeit, Freiheit und Vernunft. Wie bitte? Ausgerechnet dieser Grundakkord der Aufklärung verstellt uns nun den Weg zur Einfachheit der Lösungen unserer Probleme? Ja, denn getarnt zwar als absolute Wahrheiten, sind sie doch nur relative Begriffe – und zwar relativ zu mir, dem modernen Individuum. Mit ihnen drücke ich symbolisch aus, wie ich mich in dieser Welt positioniere, ob als tatkräftig und frei Handelnder, als wohl überlegender Realist oder eher als Opfer unhaltbarer Zustände. Und gerade weil diese Begriffe sich moralisch so leicht aufladen, lassen sie einen offenen Diskurs nicht zu.

Ach je, immer nur Reden – Machen die ständigen Diskurse überhaupt noch Sinn? Diese Frage ist sinnlos, denn man wird das Reden gar nicht verhindern können, sobald man nach der Wiederaufnahme des herkömmlichen Lebens feststellen wird, dass es dieses herkömmliche Leben gar nicht mehr geben wird. Und Sinn hat das öffentliche Reden über das Leben danach schon jetzt, weil es allen, die heute zu Recht über ihr weiteres Leben besorgt sind, zeigt, dass ihre Besorgnis ernst genommen wird. Ob diese Diskurse dann aber auch Sinn erzeugen, hängt davon ab, wie offen sie gestaltet sind. Also besser, sich jetzt schon einmal gedanklich neu einzurichten, um dann vielleicht wenigstens die richtigen Fragen zu stellen: nämlich nicht wieder die simplen alten Fragen der Fundamentalisten und Populisten aller Couleur, die bislang doch nur den Weg zur Einfachheit der Lösungen versperren.

Vor welchen Begriffen und ihrer Symbolik gilt es dabei auf der Hut zu sein? Eine Faustregel könnte lauten: all jene, die keinen sinnvollen Plural bilden und Absolutheit doch nur vorgaukeln – wie etwa Freiheit, die dann zur Rücksichtlosigkeit verkommt; Gerechtigkeit, die sich vor allem mir gegenüber, dem einzigen Absolutum der Moderne, zu vollziehen hat; und Vernunft, die immer dem entspricht, was ich für eine Tatsache halte. Eingedenk dessen darf nun munter gedacht werden, wild und frei von kategorischer Symbolik – bevor es zu spät ist!

Die Menschheit stirbt aus – was bedeutet das?  Möge Jean-Luc Nancy einmal nicht recht haben. Gedanklich malte er sich schon einmal vorab die Selbstauslöschung des Menschen durch die von ihr selbst hervorgerufene Veränderung der Lebenswelt aus. Mit den alten begrifflichen Maßstäben befragte er seine Vorstellung auf ihren Sinn. Die großen Worte haben diesen Gesellschaften ja ihren Sinn verliehen und das Abendland scheute sich nicht, diese Form der Sinngebung in die Welt hinauszutragen. Davon ausgehend also, dass das Denken in diesen symbolischen Begriffen maßgeblich jene abendländischen Gesellschaften ausgestaltet hat, die nun wiederum maßgeblich zur Auslöschung des Menschen beigetragen, würde sich im Ende der Menschheit schließlich nur etwas realisieren, wonach wir mit unserem Denken und Tun offensichtlich immer gestrebt hatten.

Oh nein, beweisen wir das Gegenteil! In einer losen Folge werden wir an dieser Stelle die Zeiten nach Corona gedanklich ausmalen und versuchen abseits der herkömmlichen Symbolik Worte finden. Wir werden uns dumm stellen – mal sehen, welche Fragen dabei herauskommen. Denn ja, es gibt ein Leben nach dem Krieg. Wir setzen darauf!

Apropos Symbole – Wenn schon Symbolik, dann auch richtig: Ja, der 8. Mai wäre ein schönes Datum für das Ende des Krieges gewesen, und zwar der 8. Mai 2045. Wenn wir dann aus den Bunkern krabbeln, ist die Luft rein, das Wasser sauber und Greta Thunberg auch nicht mehr so böse mit uns… Wem das jetzt doch zu lange dauert, für den hätten wir noch den 14. Juli im Angebot, den französischen Revolutionsfeiertag – aber, liebe Symbolpolitiker: Achtung vor dessen Symbolkraft!

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