Zeit für Zufälle

Das Straßburger Festival MUSICA geht ins 36. Jahr und fragt: welches gefühltes Alter hat eigentlich Musik, wenn sie fünfzig geworden ist?

Wird 2018 ein denkwürdiges MUSICA-Jahr? Foto: Veranstalter

(Von Michael Magercord) – Ob 2018 einmal ein denkwürdiges Jahr sein wird? Doch wofür bloß? Es sind noch ein paar Monate Zeit, dass was Historisches passiert, und nach Möglichkeit etwas, woran man sich später gerne erinnern wird. Bisher ist 2018 eher ein Jahr des Gedenkens – doch was für eins: 1918, Ende des Ersten Weltkriegs, Ende des bis dahin größten, industriell betriebenen Gemetzels unter – vermeintlich – zivilisierten Nationen! Aber was folgte nur ein Jahr später? Ein völlig vermasselter Friede unter – immer noch nur vermeintlich – zivilisierten Nationen… Dann sich lieber nur fünfzig Jahre zurückdenken: 1968, Aufbruch in eine neue, zivilere Gesellschaft, eine neue Kultur – und neue Musik!

Jahre wie das diesjährige lösen unweigerlich Erinnerungsschübe aus, besonders Großkulturveranstaltungen werden von ihnen regelmäßig übermannt. Und wenn die sich auch noch der neuen Musik verschrieben hat, dann gibt es kaum ein Entrinnen – und somit gibt sich folgerichtig die neuerliche Ausgabe des Festivals für Neue Musik dem Gedenken hin. Das große Auftaktkonzert von MUSICA am Freitag schwelgt ganz im Erbe von 1968 – und ausgerechnet mit Frank Zappas „200 Motels“.

Abgesehen davon, dass man mit diesem Werk auch an Zeiten erinnert, in denen man noch so richtig vom Leder ziehen konnte und als alles, was als Tabu noch im Raume stand, zum Brechen anstand. Und abgesehen davon, dass heute das vielleicht Erstaunlichste daran ist, dass fünfzig Jahre später in Zeiten von MeToo und anderen Bremsen der Zügellosigkeit eine Show um die sexuellen Spontankontakte zwischen Groupies und Mitgliedern einer berühmt-berüchtigten Männerband im Rahmen eines bedeutenden Musikfestivals kaum mehr möglich wäre.

Als Präsidentschaftskandidat Trump auf einem heimlichen Videomitschnitt dabei erwischt wurde zu behaupten, „girls“ ließen alles mit sich machen, wenn man(n) nur berühmt ist, lenkte die Erregung darüber ganze Nationen davon ab, sich intensiver an den tatsächlichen Leerstellen seines Gelabers abzuarbeiten. Stattdessen verlief die Erregung völlig ins Leere, denn hätte es Angeber Trump wie die Rolling Stones vier Jahrzehnte zuvor gemacht und seiner vulgären Leier ein schlichtes „some“ vorangestellt, hätte er wohl bloß eine Tatsache wiedergegeben. So wie sie in „200 Motels“ wiedergegeben wird. Aber dieses Werk gilt ja auch als Klassiker, darin darf das auch noch heute so sein, wie es war.

Und abgesehen natürlich auch davon, dass Frank Zappa es mit seinem Wirken als Tabubrecher und Gesellschaftskritiker Anfang der 90er Jahren zum „Außerordentlichen Botschafter für Handel, Kultur und Tourismus für den Westen“ gebracht hatte, berufen vom Präsidenten höchstpersönlich. Der hieß allerdings Vaclav Havel und residierte auf der Prager Burg, womit nur einmal mehr bewiesen wäre, dass die Ostmitteleuropäer schon immer etwas anders tickten, als gelernte Westeuropäer. US-Außenminister James Baker ließ die Tschechen damals jedenfalls wissen: „You can do business with the United States or you can do business with Frank Zappa.“

Abgesehen schließlich auch davon, dass das immer noch politisch korrekter war, als gleich mit „Bobby Brown“ ins Geschäft zu kommen, dem „sexuellen Spastiker“ aus Frank Zappas gleichnamigen Superhit von 1979, stellt sich nun doch die Frage, warum sich ausgerechnet das Neue-Musik-Festival MUSICA heute noch auf Frank Zappa einlässt? Und dann noch auf „200 Motels“? Rock goes Classic – Crossover-Schwulst war ziemlich in Mode und ist es heute irgendwie wieder, klingt aber leider immer etwas unterkomplex, wie gewollt, aber nicht gekonnt. Und schon gar nicht neu.

Doch was ist schon neu? Und noch nach fünfzig Jahren? Dafür gibt es eine simple Formel: je komplexer was wird, desto neuerer ist es. Ausgefeiltere Tonfolgen, theoretisch immer wieder aufs Neu untermauerte Akkordgerüste, noch verschachteltere Kadenzbögen, egal, ob die vor fünfzig Jahren oder erst gestern komponiert wurden – nur die Zunahme von Komplexität bringt heutzutage noch was Neues, ob man das nun will oder nicht. Denn natürlich klingt das meiste dann immer etwas überkomplex, wie gekonnt, aber nicht gewollt.

Und doch: aus dem Zwiespalt, etwas zu können, aber nicht zu wollen, kann etwas entstehen, dass objektiv ist, also über seine Zeit hinausragt, somit zeitlos ist. Doch geschähe das nur rein zufällig, denn nur aus Zufall kann ein absichtsvolles Subjekt auch einmal objektiv sein und ein zeitliches Wesen zeitlos agieren. Gelingt es, dann zeigte sich das nicht sofort, sondern mit der Zeit. So könnte zumindest die Erinnerung an die teils schon wieder einkassierten Tabubrüche von 1968 uns lehren, dass beabsichtigte Tabubrüche nicht unbedingt dauerhafte sind, die Zufälligen aber schon. Und vielleicht – um diesen Ausflug in eine überkomplexe Geisteswelt zu beenden – ist es dieser Umstand, der mit dem Begriff „Zivilisation“ umschrieben wird.

Schön jedenfalls, wenn uns ein Festival wie MUSICA zumindest auf dem begrenzten Feld der Musik in den kommenden zwei Wochen wieder die Bühne bietet, auf der sich so ein Zufall abspielen könnte. Ob es dazu digital und elektronisch werden muss oder Videos und Tanzeinlagen bedarf, oder doch im guten alten klassischen Konzertformat passiert, spielt keine Rolle: Der Zufall lauert überall, da passiert schon noch was, woran es sich später zu erinnern lohnt.

Festival MUSICA bis 6. Oktober in Straßburg

Das vollständige Programm gibt es hier: www.festivalmusica.org

Offizielles Auftaktkonzert: Frank Zappa – 200 Motels
FR, 21.09., 20.30 Uhr im Zenith

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