Frisst das Börsensystem seine hässlichsten Kinder?

Die schlimmsten Zocker an der Börse, elegant-verharmlosend „Short Seller“ genannt, werden gerade mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Durch Scharen organisierter, junger Kleinanleger.

Wird das Börsensystem zum Opfer seiner eigenen Waffen? So sieht es zumindest gerade aus... Foto: Victorgrigas / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Wall Street und in der Folge, alle Börsen auf der Welt, kauen gerade nervös an den Fingernägeln. Tausende junger Kleinanleger, die sich auf Internet-Plattformen organisieren, manipulieren gerade gezielt, aber offensichtlich legal, bestimmte Aktienkurse und treiben diese in die Höhe. „Leidtragende“ sind die so genannten „Short Seller“, die nichts anderes sind als Spekulanten, die auf fallende Börsenkurse wetten und dann Gewinne machen, wenn die von ihnen gehaltenen Aktienoptionen im Kurs sinken. Da sich diese organisierten Kleinanleger aber auf Aktien konzentrieren, bei denen „Short Seller“ auf sinkende Kurse gewettet haben, verlieren die „Hedgefonds“ der „Short Seller“ richtig viel Geld, da ihre Aktien nicht im Kurs sinken, sondern steigen. Und das Geld, das die „Hedgefonds“ verlieren, verdienen nun die Kleinanleger. Da das Ganze aber legal zu sein scheint, zerbrechen sich nun die Regulierungsbehörden den Kopf darüber, wie man das verhindern kann, was Experten als den „drohenden Zusammenbruch des Börsensystems“ bezeichnen. Aber wäre es wirklich so schlimm, würde das „Casino Börse“ implodieren?

Das System, bei dem sich etliche Tausend Einzelpersonen auf Internet-Plattformen absprechen und dann gleichzeitig ein paar Tausend Euro investieren, ist ein Beispiel für „Schwarm-Intelligenz“. Würde ein einzelner Privatanleger 4000 € in eine Aktie investieren, hätte das keinerlei Auswirkung auf den Aktienkurs. Kaufen aber mehrere Tausend Menschen gleichzeitig über die IT-Handelssysteme für jeweils 4000 € eine bestimmte Aktie, dann klettert deren Kurs automatisch. Dafür sorgen die Algorithmen der inzwischen zu 99,9 % IT-gestützten Transaktionssysteme. Ergebnis: Die Kleinanleger machen alle Gewinn, da ihre Aktie steigt, während diejenigen, die auf fallende Aktienkurse gewettet haben, starke Verluste verzeichnen. Anders gesagt, die Zocker werden von anderen Zockern abgezockt.

Jaaaa, sagen nun einige Experten, die Rechnung haut aber nicht hin. Denn die „Hedgefonds“ bestehen nicht nur aus schlechten Aktien, mit deren Kursverfall man rechnet (und auf den man enorme Summen gewettet hat), sondern auch aus „guten“ Aktien, die zwar weniger, dafür aber sichere Gewinne abwerfen. Eine Mischkalkulation. Und vor allem, ein unglaubliches Gezocke, bei dem das abgeschöpft wird, was die Realwirtschaft erwirtschaftet. Jaaaaa, sagen nun einige Experten, aber mit dem Geld, das die Zocker in die „guten“ Aktien investieren, können die Unternehmen Arbeitsplätze schaffen, Steuern zahlen und die ganze Volkswirtschaft am Laufen halten. Soweit die Einschätzung von Börsen-Experten, die selber an der Börse mitspielen und für die eine Perspektive, in der sich die Börse nach ihren eigenen Regeln selbst verzockt, ein Gräuel ist. Und leider sehen die Realitäten so aus, dass die Börsenzockerei nur noch wenig mit der Realwirtschaft zu tun hat. Die Zeiten, in denen der „ehrbare Kaufmann“ an der Börse Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen beschaffte, die gehören zur Wirtschafts-Romantik. Heute wird an den „Märkten“ mit den abstrusesten Wetten gehandelt, wie Wetten auf das Eintreten oder Ausbleiben einer Pandemie (!), es geht um den Handel mit Wertpapieren und Derivaten und um Dividenden.

Genau der beschriebene Vorgang passiert gerade mit den Aktien des weltweit größten Vertreibers von Videospielen, „Game Stop“. Die Aktie dieses Unternehmens kauften Tausende von Kleinanlegern zum gleichen Zeitpunkt, was den Kurs zwangsläufig in die Höhe trieb. Erste „Hedgefonds“, die Milliardenbeträge auf einen Kursverlust von „Game Stop“ gewettet hatten, mussten sogar mit gigantischen Finanzspritzen von Konkurrenten (!) gestützt werden, weil sie sonst innerhalb weniger Tage bankrott gegangen wären. Diese „Rettung“ erfolgte allerdings nicht aus Solidarität zwischen Zockern oder sonstigen altruistischen Gründen. Den Managern von „Hedgefonds“ ist einfach klar, dass wenn die ersten großen „Hedgefonds“ fallen, dies eine Domino-Entwicklung auslösen kann, bei denen dann auch ihnen selbst die Luft ausgeht. Es läuft alles auf ein Armdrücken zwischen den Kleinanlegern und den Profi-Zockern hinaus, bei dem die Kleinanleger die besseren Karten haben. Denn angesichts der Tatsache, dass ihr Konzept momentan funktioniert, dürften sich die Kleinanleger in rasender Geschwindigkeit vermehren und dadurch ihre Marktmacht extrem steigern. Sobald dann ein „Hedgefonds“ mit seinen „Short Sellern“ auf einen sinkenden Aktienkurs wettet, werden sich Tausende, Zehntausende oder auch Hunderttausende Kleinanleger auf diese Aktie stürzen und ihren Kurs in die Höhe treiben. Damit werden sie in einem bescheidenen, aber nicht uninteressanten Umfang Geld verdienen und die „Hedgefonds“ sehr viel Geld verlieren.

Dieses neue System wird allerdings auch nicht ewig funktionieren können, doch hat es das Potential, verbrannte Erde in der Börsenwelt zu hinterlassen und diese tatsächlich in ihren Grundfesten zu erschüttern. Anders, als verschiedentlich dargestellt, handelt es sich allerdings nicht um „Robin Hoods“, die das Börsensystem von innen heraus zum Fall bringen wollen. Es sind einfach die Kids von heute, die gemerkt haben, dass sie so auf „witzige“ Weise ein wenig Geld verdienen können – überspitzt könnte man sagen, dass es sich um eine Art Umverteilung zwischen den „Hedgefonds“ und einer bestimmten Bevölkerungsgruppe handelt, die nicht unbedingt zu den begüterten Schichten zählt. Eine Sozialrevolution? Sicher nicht. Es handelt sich eher um die nächste Generation derjenigen, die den bestehenden Rahmen der Börse bis ins Letzte ausreizen. Die letzten, die das taten, waren die „Hedgefonds“ mit ihren „Short Sellern“. Ob nun die Letzten die Ersten sein werden, die bei diesem Börsengemetzel auch wieder verschwinden werden?

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