Urlaub zuhause wie im Ausland

Im Trend: Individualkolonialismus ohne Punkt und Powerpoint

Eine Insel der Glückseligen im Meer der Massen. Foto: Bicker

(AB) – Ich glaube, ich bin heute unfreiwilliger Teilnehmer an einer Sozialstudie der psychologischen Fakultät geworden. Die Versuchsanordnung: Im größtem Freibad meiner Stadt, in dem seit Jahr und Tag Liegestühle auf einer erhöhten Sonnenterrasse für 1,50 Euro vermietet werden, werden ca. 16 nagelneue und saubequeme Liegestühle zur kostenlosen Nutzung auf einem ansprechenden Holzdeck nahe beim Schwimmbecken präsentiert.

Verhalten sich die einheimischen Besucher nun so, wie sie es als deutsche Touristen im Ausland gelernt haben, indem sie diese Liegestühle auch bei längerer Abwesenheit mit Handtüchern für sich reklamieren?

Die Antwort lautet: Ja.

Aber es gibt auch Wunder. Nicht, dass die Schwimmbadleitung vernünftigerweise alle halbe Stunde per Gong und “Über den Wolken” von Dieter Thomas Kuhn eine Reise nach Jerusalem einläuten würde. Nein, soweit ist es noch nicht mit dem Gerechtigkeitswahlkampf der SPD. Aber als ich vor einigen Tagen aus dem Schwimmbecken stiefelte, vorbei an Männern, die den Boden neben den Tischtennisplatten mit dem Schatten ihrer Bäuche kühlten, fand sich auf besagtem Sonnendeck tatsächlich ausnahmsweise mal ein Liegestuhl ohne stofflichen Grundbucheintrag frei. Ich spazierte hin, legte mein Handtuch und mich darauf, schaute kurz nach versteckten Kameras und schloss die Augen. Herrlich.

Beziehungsweise fast herrlich, denn nicht alle anderen Liegestühle waren nur mit verlassenen Handtüchern belegt; zwei Damen unterhielten sich in der Nähe. Es ging darum, wer bald, wann und mit wem, wie und wohin in Urlaub fahren würde, welches Gepäck man mitnehmen respektive dalassen würde, welches die Vor- und Nachteile beider Verfahren waren und was das alles kosten würde. Hier kommt mir die Formulierung, die beiden Damen ‚tauschten sich aus‘ in den Sinn, doch das trifft es nicht. Hm, sie berieselten sich in einem pingpongähnlichen Teilschnittmengenverfahren nach dem Prinzip Propaganda und Erbauung.

In einem gleichmäßig rauschenden Tonfall, etwa wie in einem Hörsaal, teilten beide ihrer jeweiligen Gesprächspartnerin pausenlos die entsprechenden Detailinformationen mit. Die Gesprächsübergänge überlappten sich dabei stets. Die eine Dame sprach solange, bis die andere nach etwa eineinhalb Minuten ungeduldig wurde und ihrerseits ihre Informationen über Reisepläne, strategisches Vorgehen und mögliche Gefahren und Ungewissheiten fortsetzte.

In diesen Phasen sprachen beide gut zehn bis zwanzig Sekunden lang gleichzeitig, bis dann die erste die Segel strich und in ihrer Apnoerede pausierte, um knapp eineinhalb Minuten später in exakt gleicher Weise die Mitteilungshoheit wieder an sich zu ziehen. So ging es erstaunlich ausgewogen und in den Gesprächsübergaben überlappend hin und her. Ruhe war nie, aber in etwas mehr als der Hälfte der absolvierten Gesamtzeit sprach immerhin nur eine der beiden Damen.

Das Ganze erinnerte mich an eine Art akustisches Tauziehen mit Schachuhr. Der Preis dafür, die eigenen Informationen und Interpretationen kommunizieren zu dürfen, lag offensichtlich darin, zwischenzeitlich in passiver Weise die anderseitigen Ausführungen abregnen zu lassen. Das unausgesprochen Agreement: Auf diese Weise würden am Ende beide gewonnen haben.

Während ich diesen Gedanken nachhing, standen die Damen plötzlich auf und entfernten sich unter Zurücklassung ihrer ungleich schweigsameren Handtücher. Ungefähr zeitgleich näherten sich zwei andere Damen von der anderen Seite aus Richtung Westen und bestaunten eine durch nichts okkupierte Liege. „Darf man sich da einfach so hinsetzen?“, fragte die jüngere die etwas ältere. „Ja klar“, antwortete diese und tat wie erfragt. „Da muss es doch irgendeine Regelung geben“, erwiderte die jüngere ungläubig, „da liegen ja lauter Handtücher drauf. In Hotels ist das jetzt bei Strafe verboten.“

Meine Gedanken flogen über das Mittelmeer nach Marokko. Hier erhielten gerade zwei deutsche Touristen aus Bergisch Gladbach jeweils zehn Hiebe mit dem Gürtel eines Frotteebademantels auf die Fußsohlen, weil sie frühmorgens ihre Handtücher auf zwei Liegen am Pool gelegt hatten, um dann in Ruhe frühstücken zu gehen und sich hernach im Zimmer nochmal hinzulegen. Sie waren erwischt worden, weil ihre Handtücher nummeriert waren und eine marokkanische Poolpolitesse die menschenleeren Geiselliegen fotografiert und nach Ablauf einer Karenzzeit an das Amt zur Abwehr von Individualkolonialismus gemeldet hatte.

Ich öffnete die Augen; eine gute halbe Stunde hatte ich auf der Liege gelegen und war fast oder tatsächlich eingedöst. Es war einfach zu heiß. Ich stand auf und verließ das Holzdeck schweren Herzens, um zu duschen. Ob ich mein Handtuch mitnahm? Das würden Sie jetzt gern wissen, gell?

 

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste