Wenn das Vergessen politisch wird

Eine Umfrage der „Jewish Claims Conference“ in mehreren europäischen Ländern brachte Erstaunliches ans Tageslicht. In vielen Ländern hat man den Holocaust schlicht vergessen.

Die berüchtigte Rampe von Auschwitz, auf der SS-Schergen über Leben und Tod entschieden. Der Rauch im Hintergrund stammt nicht von den Lokomotiven... Foto: Bernhard Walter / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Die Fragestellung der Umfrage der „Jewish Claims Conference“ in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich, Polen, Rumänien, Ungarn und den USA war denkbar einfach. Die erste Frage lautete, ob die befragten 18- bis 29jährigen schon einmal die Begriffe „Holocaust“ oder „Shoah“ gehört hätten und die zweite Frage, ob die Befragten wüssten, dass die Nazis 6 Millionen Juden getötet haben. Die Antworten, so erschreckend sie sind, bieten einen ersten Ansatz, der den explosionsartigen Anstieg des rechtsextremen und antisemitischen Gedankenguts bei einem Teil der Jugend erklärt. Nicht rechtfertigt, sondern erklärt.

Dass im „Täterland“ Deutschland immerhin 88 % der Befragten die Begriffe „Holocaust“ oder „Shoah“ kannten, ist wenig verwunderlich, denn zum Glück werden diese Themen im Schulunterricht behandelt. Auch in Österreich und Rumänien sind diese Begriffe den meisten jungen Leuten geläufig. Einen bösen Ausreißer gab es in Frankreich, wo 46 % der befragten Jugendlichen sagten, dass sie diese Begriffe noch nie gehört hätten. Fast die Hälfte der jungen Franzosen!

Bei der Frage nach der Ermordung von 6 Millionen Juden durch die Nazis sieht es noch schlimmer aus. Selbst in Deutschland gaben rund 40 % der Befragten an, von diesem Verbrechen nichts zu wissen. In den anderen Ländern waren die Ergebnisse noch schockierender.

Mit jedem Jahr, mit jeder neuen Generation verwischt das kollektive Verdrängen die Kenntnis von diesem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Doch ist dieses Vergessen nicht etwa die „Schuld“ der Jugendlichen, sondern derjenigen, deren Aufgabe es ist, die Jugend auszubilden. Doch mit Einstellungen wie „das ist nun schon so lange her, da muss man nicht mehr drüber reden“ sorgt man nicht etwa dafür, dass ein neues Geschichtskapitel aufgeschlagen wird, sondern im Gegenteil, dass antisemitische Gedanken und immer häufiger auch Taten, als nicht weiter schlimm betrachtet werden. Doch wenn die vorherigen Generationen die nächsten Generationen nicht über diese Greuel aufklären, dann verlieren diese Greuel auch ihren Schrecken. Was man durchaus bei einem Teil der jugendlichen Linken sieht, die bei ihren Demonstrationen Israel heute einen „Genozid“ vorwerfen, ohne sich dabei darüber im Klaren zu sein, was ein Genozid eigentlich ist, dass die jüdische Bevölkerung Deutschlands und Europas einen solchen Genozid erlitten hat und dass diejenigen, die heute wieder einen Genozid verüben wollen und dies auch bei jeder Gelegenheit unterstreichen, die Terror-Mitglieder der „Achse des Widerstands“ gegen Israel sind, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staats Israel und die Ermordung der dort lebenden Juden ist.

Der einzige Weg, um diese Tendenz des kollektiven Vergessens und des explosionsartigen Anstiegs des Antisemitismus in Europa zu stoppen, ist die schulische Ausbildung. In den Altersstufen der Heranwachsenden sollten obligatorische Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern und Gedenkstätten zum Pflichtprogramm gehören und nicht etwa optional sein, wenn ein Lehrer motiviert genug ist, einen solchen Besuch zu organisieren. Das Thema der Nazizeit und der Shoah muss ein fester Bestandteil der Geschichtsunterrichts sein und dort nicht nur am Rande gestreift werden. Denn die Gaskammern waren alles andere als ein „Detail der Geschichte“, wie ein kürzlich verstorbener Vertreter der französischen Rechtsextremen einst behauptete – und jeder junge Europäer sollte mindestens einmal im Leben die entsetzliche Atmosphäre dieser Lager erlebt haben, in Auschwitz, Dachau oder im Struthof. Denn in einer immer schneller werdenden und visuellen Zeit, ist der Besuch dieser Lager für viele Jugendliche ein nachhaltiges Erlebnis, eine Erkenntnis, die nicht durch eine halbe Stunde Geschichtsunterricht vermittelt werden kann.

Im Grunde ist es schon fast zu spät, eine solche Gedächtnisarbeit zu leisten, die offenbar von denjenigen, die sie pflegen, nur noch der Hälfte der jungen Generation vermittelt werden kann. Doch der Zeitpunkt, zu dem das letzte Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergessen wurde, ist auch der Zeitpunkt, zu dem das nächste Verbrechen gegen die Menschlichkeit beginnt. Dies zu verhindern, ist Aufgabe der Schulen, der Familien, der engagierten Vereine. Doch sollte man diese Aufklärungsarbeit schnell beginnen oder vertiefen, denn ansonsten wird man ein weiteres Mal bei solchen Verbrechen nur Zuschauer sein, sie aber nicht verhindern. Die Umfrage der „Jewish Claims Conference“ zeigt es deutlich: Für „Wehret den Anfängen“ ist es schon längst wieder zu spät.

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