“Wo ist denn jetzt der Mama ihre Marke?”

Eine Sportreportage vom modernen Dreiklang: Kind, Einkauf, Sprache.

Rollende Gefängnisse, ineinandergeschoben. Foto: Bicker

von Arne Bicker

Ich weiß ja nicht, ob es den guten, alten Leserbrief überhaupt noch gibt. Für uns als Online-Medium ohne bimmelnde Bezahlschranke tut es natürlich auch eine E-Mail, und eine solche erreichte die Redaktion von unserer Leserin Gerlinde W. aus H.: “Liebe Eurojournalisten, bei meinem letzten Einkauf im Supermarkt erlebte ich beim Wagenzurückbringen unfreiwillig eine Szene, in welcher eine Mutter ihr Kleinkind auf dem einen Arm hielt und mit der Hand des anderen in ihrer Tasche kramte, wobei sie das Kind fragte: ‘Wo ist denn jetzt der Mama ihre Marke?’ Ich will ja nicht rumlästern, aber ist das so korrekt?”

Hm. Da wir keine eigene Leserbriefabteilung haben, beschloss die Redaktion in waschraumtechnischer Absenz des Kolumnisten, dass nun eben dieser Kolumnist für die Beantwortung der Leserpost zuständig sei. “Selber Schuld”, bekam ich zu hören vom wie immer grinsenden Kulturrezensenten, und “Da, mach mal” von der Redaktionssekretärin, dazu ein “Jetzt aber flott” vom Chefredakteur.

Also gut, ähem, liebe Frau Gerlinde, die Antwort liegt klar auf der Hand: Nein, null und überhaupt nicht. Begründung: Zum einen sollte eine mutmaßlich erwachsene Frau einem Kleinkind, für das so etwas wie eine semantische Unschuldsvermutung gilt, keine derart verschwurbelte Frage stellen. Das Kind ist damit inhaltlich überfordert und könnte – das wollten Sie sicher hören – ein lebenslanges Trauma erleiden.

Untersuchen wir nun die Grammatik der Fragestellung. Die Mutter spricht offensichtlich von sich selbst, das jedoch in der dritten Person. Sie verbündet sich durch diese Formulierung mit ihrem Kind, was grundsätzlich löblich erscheint, jedoch nicht in diesem Fall, da der Bündnisgegner sie selbst ist. Die Absicht, die “Mama” als ein bischen fragwürdig bis dämlich dastehen zu lassen, weil diese ihre “Marke” nicht findet, scheint somit fragwürdig und dürfte in dieser gewollten Konstruktion das Kind überfordern (wenigstens wurde hier kein noch größerer Dachschaden zum Beispiel durch eine Verwendung des Pluralis Majestatis angerichtet). Richtig wäre es hingegen, spräche die “Mama” von sich selbst, also ‘ich’ oder ‘mein’ usw.

Der Begriff “Marke”, gern auch als Kurzform für “Briefmarke” gebraucht, erscheint an dieser Stelle gleichfalls völlig fehl am Platze. Das Kind könnte in altersbedingter Ermangelung empirisch vertieften gegenteiligen Wissens zu dem Eindruck gelangen, die “Mama” wolle den Einkaufswagen als gefängnisähnliches, weil vergittertes Transportbehältnis mit einer Briefmarke bekleben, um darin womöglich das Kind zu verschicken, was ungeahnte Trennungs- resp. Todesängste auslösen könnte. Richtig wäre es, von einem “Einkaufwagenchip” zu sprechen (Kinder lieben bekanntlich Chips schon im Vorschulstadium) oder kurz von einem EKWC – das würde das Kind wie ein altersgerechtes Drogenersatzbrausepulver angenehm kribbelnd verwirren, statt es zu traumatisieren.

Außerdem wäre die Mutter durch Anwendung der militärisch präzisen Kurzform der sie sicherlich überfordernden Aufgabe enthoben, die Anzahl der Genitiv-Esse in dem ausgeschriebenen Wort zu bestimmen und sinnmachend einzustreuen. Der Greuelsfall “Einskaufswagenschip” wäre ein Supersgau für das empfindsame Kleinskind.

Ich fasse zusammen: Die Fragestellung ist für das Kind insgesamt zu komplex, aufgrund der fälschlich herangezogenen dritten Person grammatikalisch verwunderlich bis unkorrekt, und durch falsche Wortwahl aus Kindersicht in vermeintlich existenzbedrohender Weise missverständlich. Die Mutter wäre gut beraten, die Frage verständlicher, kürzer, selbstbezogener und kindhumorgerechter zu formulieren. Richtig muss es also heißen: “Wo ist mir mein EKWC?”

Von weiteren Nachsfragen bitte ich abzusehen, ich brauche jetzt erstmal Urslaub.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste