Was Sie schon immer zum Thema „Schlichtung & Co.“ wissen wollten… (17)

(17) – Heute: Interview mit Ulrike Kempchen, Expertin aus dem Pflegebereich.

Die Juristin Ulrike Kempchen ist Expertin für den Pflegebereich. Foto: (c) BIVA

(Red) – Die“ Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen e.V“. (BIVA-Pflegeschutzbund) mit Sitz in Bonn vertritt seit 1974 die Interessen von Menschen, die Hilfe oder Pflege benötigen und daher in betreuten Wohnformen leben. Sie setzt sich für die Stärkung der Rechte von Bewohner*innen aller Heimarten und Wohnformen ein, ist unabhängig und gemeinnützig. Sie bietet auch Angehörigen Rat und Information in schwierigen Situationen bei Pflege und Betreuung – und fordert eine bessere Konfliktlösungskultur in diesem Bereich. Verbraucherschlichtungsstellen sind auf dem Gebiet des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG) zuständig. Zusammen mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) hat die BIVA bereits 2016 eine Broschüre zu dieser Thematik herausgegeben, und auch der Sozialverband VdK hat erst vor Kurzem einen Erklärfilm zu Schlichtung und Pflegeheim online gestellt. Interview mit Frau Rechtsanwältin Ulrike Kempchen, die Leiterin Recht der BIVA und Autorin zahlreicher Fachpublikationen ist.

Frau Kempchen, in einem Positionspapier der BIVA ist zu lesen, dass es mit dem WBVG seit zehn Jahren ein dediziertes Verbraucherschutzgesetz gibt, das für alle vertragsrechtlichen Beziehungen zwischen Heimbewohner*innen und Heimbetreiber*innen gilt. Es enthalte etliche sinnvolle Regelungen (Informationspflichten, Kündigungsrechte, Formvorschriften etc.), die die strukturell schwache Position der Verbraucher stärken. In dem Papier sowie einem weiteren steht aber auch, dass es Missstände in der Praxis gibt und deutliche Verbesserungen bei der Lösung von Konflikte geboten sind. Was sind also typische Probleme im Kontext des WBVG?

Ulrike Kempchen: Menschen, die in ein Pflegeheim ziehen oder eine vergleichbare Versorgungsform wählen, begeben sich aufgrund ihres Hilfebedarfs in eine doppelte Abhängigkeit. Sie erhalten ihre Unterkunft sowie die Pflege- und Betreuungsmaßnahmen aus einer Hand. Konflikte sind daher besonders problematisch, weil das gesamte Lebensumfeld beeinflusst wird. Die Menschen könnender Situation ja quasi nicht entfliehen. Die Bewohner stehen in engem Kontakt zum Pflegepersonal und fürchten aufgrund ihrer Abhängigkeit Unannehmlichkeiten oder sogar Repressalien, wenn sie Beschwerden äußern. Zudem sind sie meist hochaltrig, bei schlechter Gesundheit und/oder kognitiv eingeschränkt, so dass sie ihre Rechte kaum selbst durchsetzen können. Probleme aus dem Bereich des WBVG betreffen in der Regel das Vertragsrecht. Die Aufsichtsbehörden sind hierfür aber nicht zuständig, so dass die Bewohner wie jeder andere Bürger auch auf den allgemeinen Zivilrechtsweg verwiesen werden. Dieser allgemeine Zivilrechtsweg, also der Gang zu Gericht, auf den das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) verweist, ist für diese Betroffenen kaum gangbar, da zu beschwerlich und langwierig. Und während des gesamten Prozesses müsste man weiter vom gerichtlichen Gegner versorgt werden. Das ist emotional schon extrem belastend.

Könnten Verbraucherschlichtungsstellen hier helfen und wenn ja, können Sie uns einen praktischen Fall beschreiben, in dem sich Schlichtung anbieten würde?

UK: Die Verbraucherschlichtung eignet sich in der Tat als Lösungsansatz für Konflikte im Heim, denn damit können Heimbewohner Probleme leichter und schneller juristisch lösen und überprüfen lassen. Da das Verfahren schriftlich erfolgt, müssen die Bewohner nicht persönlich anwesend sein und können den Antrag ggf. vom Bevollmächtigten oder Betreuer stellen lassen. Aufgrund der kürzeren Verfahrensdauer wäre auch schneller ein Lösungsansatz gegeben.

Fallbeispiel: Nehmen wir an, eine Einrichtung will die Entgelte zum 01.12. erhöhen und fordert dazu die Pflegesatzparteien im September auf, in Pflegesatzverhandlungen zu gehen. Den Bewohnern gegenüber kündigt die Einrichtung die neuen Kostensätze an, die sie ab dem 01.12. nehmen will. Die Pflegesatzverhandlungen ziehen sich wochenlang hin. Schließlich einigt man sich, dass ab dem 01.12. ein Satz genommen werden darf, der sogar noch über dem liegt, was angekündigt wurde. Die Einrichtung zieht daher ohne weitere Informationen den höheren Satz ein. Nach § 9 WBVG hätte sie aber den Bewohnern gegenüber diese unerwarteten Kosten formal wirksam noch einmal neu ankündigen müssen, damit diese sich hätten überlegen können, ob sie von ihrem Sonderkündigungsrecht Gebrauch machen möchten. Denn neue Entgelte sind frühestens vier Wochen nach einer formal korrekten Ankündigung geschuldet. Die Bewohner könnten also auf eine erneute (korrekte) Ankündigung bestehen und müssten erst vier Wochen später frühestens die höheren Kosten zahlen. Die bisherige Überzahlung könnten sie zurück verlangen. Die Einrichtung reagiert aber auf die Einwände Einzelner nicht und kehrt die höheren Beträge nicht wieder aus. Der einzelne Bewohner könnte jetzt auf Auszahlung klagen, oder auch die Schlichtungsstelle anrufen.

Den BIVA-Positionspapieren habe ich entnommen, dass fast alle Heime eine Teilnahme an einem Verfahren vor einer Verbraucherschlichtungsstelle ablehnen. Wie kommt es Ihrer Meinung nach dazu und wie könnte sich das ändern?

UK: Die Heimbetreiber haben das volle Potential der Verbraucherschlichtung augenscheinlich noch nicht erkannt. Sie haben ihr internes Qualitätsmanagement und sehen meist den Sinn eines zweiten Verfahrens nicht. Dabei verkennen sie aber leider, dass die Mehrzahl der betroffenen Bewohner bzw. Angehörige dem internen Qualitätsmanagement nicht so trauen, wie sie dies einer unabhängigen Stelle gegenüber tun würden. Als Folge bleiben viele Konflikte unausgesprochen und damit ungelöst. Vielleicht scheuen sie auch die vom Unternehmer zu tragenden Kosten, obwohl diese mit maximal 600 Euro eher nicht ins Gewicht fallen. Nach § 6 Absatz 4 WBVG haben die Betreiber von stationären Einrichtungen eine Informationspflicht gegenüber den Kunden zum Streitbeilegungsverfahren. Sie müssen angeben, ob sie zur Teilnahme an Streitbeilegungsverfahren bereit sind. Im Rahmen eines Projekts hat der BIVA-Pflegeschutzbund im letzten Jahr über 500 Musterheimverträge geprüft und festgestellt, dass mehr als 90 Prozent der ausgewerteten Verträge entweder keine Auskünfte zum Thema Schlichtungsverfahren oder die Teilnahme daran konkret abgelehnt wurde. Auf Nachfrage bekundeten zahlreiche Unternehmer, sie würden keinen Sinn darin sehen, ihr Beschwerdemanagement sei ausreichend. Die Teilnahme an einer Schlichtung könnte seitens der Einrichtungen auch als Qualitätsmerkmal ausgewiesen werden. Will man sich besonders verbraucherfreundlich zeigen, könnte man die Bereitschaft betonen, Schlichtungen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Da es aufgrund der Demografie und damit hohen Nachfrage an Heimplätzen aber kaum Konkurrenz unter den Einrichtungen gibt, besteht auch kein Druck.

Stehen Heimbewohner Ihrer Meinung nach Schlichtung eher positiv gegenüber?

UK: Ja, auf jeden Fall. Unsere oben genannte Erhebung hat gezeigt, dass sich mit ca. 70 Prozent die meisten Befragten das Schlichtungsverfahren als geeignetes Mittel zur Konfliktlösung vorstellen können. Dem internen Beschwerdemanagement der Einrichtungen dagegen ist man eher kritisch eingestellt. Hier wurde häufig bekundet, dass dies nichts bringe, weil es keine unabhängigen Entscheider gäbe. Allerdings ist die Anwendungsmöglichkeit der Schlichtung im Bereich des Wohn- und Betreuungsvertragsverhältnisses bei den Betroffenen kaum bekannt. Hier wäre eine breit angelegte Aufklärungskampagne notwendig.

Können auch Angehörige bei der Antragstellung helfen oder die betroffenen Verbraucher vertreten? Oder Einrichtungen wie die BIVA – stehen Sie selbst im Austausch mit einer zuständigen Verbraucherschlichtungsstelle?

UK: Der Antrag auf ein Streitschlichtungsverfahren muss tatsächlich vom Betroffenen selbst bzw. seines Bevollmächtigten oder Betreuers gestellt werden. Die BIVA kann hier informieren, auf Schlichtungsstellen verweisen und das Schlichtungsverfahren fachlich begleiten. Wir können Betroffene und Angehörige unterstützen, denn mindestens zwei Monate vor Beantragung einer Schlichtung muss der Verbraucher seine Ansprüche beim Unternehmer geltend machen. Bereits das ist häufig eine gute Chance, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.

Könnte Schlichtung das Multitool schlechthin für Konflikte im Heim sein? Und was ist mit Gerichtsverfahren, Mediation, internem Beschwerdemanagement der Heime?

UK: Streitschlichtung bietet eine vergleichsweise niedrigschwellige Möglichkeit der Konfliktlösung. Die große Chance der Streitschlichtung besteht in ihrer Neutralität, Transparenz und Öffnung nach außen. Gerichtsverfahren dagegen sind in der Regel zu beschwerlich für Pflegeheimbewohner, die meist kognitiv und/oder körperlich eingeschränkt sind. Der Vorteil hierbei ist aber, gerade bei einem Obsiegen, die Titulierung und Durchsetzbarkeit. Und das interne Beschwerdemanagement der Einrichtungen stößt bei den Heimbewohnern eher auf Misstrauen, weil es für sie nicht transparent und eben auf der „anderen Seite“ angesiedelt ist. Da kommt wieder das schon angesprochene Abhängigkeitsverhältnis ins Spiel. Eine Mediation kann dann sinnvoll sein, wenn die Mediatoren unabhängig und sich der Tragweite des Konflikts bzw. dessen besonderen Kontextes bewusst sind. Allerdings bedarf eine Mediation auch eines persönlichen „Mitmachens“ der Betroffene, wozu z.B. pflegebedürftige Menschen nicht immer und über einen längeren Zeitraum in der Lage sind. Außerdem sind die Kosten häufig höher und nicht nur seitens der Unternehmer zu tragen. Insofern könnte man die Verbraucherschlichtung durchaus als eine Art Multitool für Konflikte im Heim bezeichnen, zumindest hinsichtlich der Themenbereiche, die von der Schlichtungsmöglichkeit umfasst sind.

Ulrike Kempchen, vielen Dank für diese Informationen!

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