„Die Welt besteht nicht nur aus wirtschaftlichen Kennzahlen“

Bei den 10. Freiburger deutsch-französischen Kulturgesprächen kam es zu interessanten und kontroversen Debatten über den Sinn und Zweck der Wirtschaftspolitik und der Forderung nach mehr Lebensqualität.

Florence Jany-Catrice, Moderatorin S. Syfuss-Arnaud, Markus C. Kerber und David Bernet - in einer spannenden Diskussion. Foto: Eurojournalist(e)

(KL) – „Das Bruttoinlandsprodukt ist wie ein universeller ‚Tarifvertrag‘ zur Bestimmung von Reichtum“, kritisierte die Wirtschaftswissenschaftlerin Florence Jany-Catrice, die an der Universität Lille forscht und sich für eine Reform der Wirtschaftsindikatoren stark macht, denn sie vertritt die Ansicht, dass die allgemein verwendeten Kennzahlen der Wirtschaft nur ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit unserer Gesellschaften darstellen. „Die Gleichung ‚höheres BIP gleich mehr Lebensqualität in der Gesellschaft stimmt einfach nicht“, sagt sie, denn von einem höheren Wachstum profitieren in der Regel nur die 10 % der Wohlhabenden einer Gesellschaft“. Ihr einführender Vortrag zum Thema „Märkte und Menschen“ bei den 10. Freiburger deutsch-französischen Kulturgesprächen war der Ausgangspunkt für eine lebhafte Debatte mit dem Professor für Öffentliche Finanzwirtschaft an der TU Berlin Markus C. Kerber und dem Filmemacher David Bernet („Democracy – im Rausch der Daten“).

In den wirtschaftlichen Eckdaten, so Florence Jany-Catrice, fehlt vor allem ein wichtiger Parameter – der „soziale Reichtum“ eines Landes. Damit meint sie die Lebensqualität, die Fähigkeit einer Gesellschaft zum Zusammenleben und folgerichtig fordert sie eine Abkehr von der „Obsession der Zahlen“. So fehlen beispielsweise Indikatoren über die Armut in der Gesellschaft, über das seelische Gleichgewicht der Menschen, über die Nachhaltigkeit und die Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung in der Gesellschaft. „Das goldene Kalb der Wirtschaftszahlen verstellt uns den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge – die Lebensqualität in einer nachhaltig organisierten Welt“.

Das sah Professor Kerber ganz anders, auch, wenn er durchaus einräumte, dass diese Parameter wichtig sind und allgemein zu kurz kommen, doch „wir brauchen Wachstum um jeden Preis“. Und, wie am Vorabend bei der Debatte zwischen dem Wirtschaftsweisen Lars Feld und der Berichterstatterin des Haushaltsausschusses im französischen Parlament Valérie Rabault, wurde Frankreich gleich heftig kritisiert: „Seit zehn Jahren befindet sich Frankreich im freien Fall und erweist sich als reformunfähig“.

Unterschiedliche Begrifflichkeiten. – Interessant waren dann Professor Kerbers Einlassungen zur Begrifflichkeit, anhand derer er aufzeigte, dass wenn Franzosen und Deutsche über das Thema der Wirtschaft sprechen, sie zwar die gleichen Begriffe verwenden, aber unterschiedliche Dinge meinen. So bedeutet für deutsche Wirtschaftswissenschaftler der Begriff „Stabilität“ so etwas wie „Solidität“ und damit auch „Nachhaltigkeit“, während der französische Kollege damit eher Assoziationen wie „Austerität“ verbindet. Wenn man schon mit der Terminologie Schwierigkeiten in der Verständigung hat, dann wird es inhaltlich schwer…

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Jany-Catrice überraschte dann mit der Forderung, die Welt nicht alleine den Wirtschaftsexperten zu überlassen – sie möchte die Bürgerinnen und Bürger in einen „horizontalen“ Dialog einbinden und mit Vorurteilen aufräumen, wie beispielsweise der impliziten Unterstellung, dass Arbeitslose „faul“ seien.

Hin zur 32-Stunden-Woche? – Konkreter wurde es dann bei der Frage, die Professor Kerber aufwarf, wie man denn ohne Wachstum die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen solle. Für Jany-Catrice funktioniert das nur über einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, beispielsweise über die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden und die Schaffung neuer Arbeitsformate, in denen die Menschen etwas weniger arbeiten und verdienen, dafür aber mehr Arbeitsplätze und vor allem eine höhere Lebensqualität für die Menschen entstehen.

Nach einem rasanten Themenwechsel forderte Professor Kerber die „Abwicklung“ des Euro, Filmemacher David Bernet vertrat die Ansicht, dass die europäischen Narrative fehlen, womit er meinte, dass es wenig Dinge gibt, die den Menschen eine überzeugte europäische Einstellung vermitteln können und dass das Schreiben solcher Narrative zwei bis drei Generationen dauern würde. Solche „Narrative“, sprich, überzeugende Erfolgstories wären allerdings unerlässlich, wollte man an einem der wenigen, verbindenden europäischen Projekt schrauben, nämlich dem Euro. Nur – Europa hat keine zwei oder drei Generationen Zeit, solche Narrative zu entwickeln…

“Öffentliches Geld sollte den Menschen nutzen!” – Der permanente Hinweis auf die so erfolgreiche deutsche Sparpolitik begeisterte Florence Jany-Catrice wenig. Dass Deutschland stolz sei, durch Lohnverzicht, Einsparungen und Einschnitte in die sozialen Systeme einen konjunkturellen Aufschwung seit 2005 bewerkstelligt zu haben, sei schön und gut, nur sollte man sich auch die Frage stellen, an welchen Stellen welches Geld eingespart wurde. „Öffentliches Geld sollte den Menschen nützen und nicht nur verwendet werden, um die Kassen der Banken zu füllen“, sagte sie. Erstaunlicherweise stimmte ihr Professor Kerber dabei zu und schlug, vielleicht nicht ganz ernst gemeint, die Bildung einer „Front gegen den Finanzkapitalismus“ vor.

Die lebhafte Diskussion zeigte gleich mehrere Dinge auf. Auf der einen Seite gibt es Bestrebungen, die Wertigkeiten in der Gesellschaft neu zu definieren und mehr auf den Menschen und dessen Bedürfnisse zuzuschneiden, wie Florence Jany-Catrice es fordert. Angesichts einer Situation in Frankreich, in der die Jugend auf der Straße protestiert und der Unmut über den Status Quo bis hinein in die Parteien des bürgerlichen Lagers reicht, sind diese Überlegungen richtig und wichtig, denn es fehlt der heutigen Gesellschaft vor allem eine Perspektive. Auf der anderen Seite herrscht aber nach wie vor der kühle Realismus der Wirtschaftswissenschaft, der sich herzlich wenig um die Bedürfnisse der Menschen, dafür aber umso mehr um die Bedürfnisse der Finanzwirtschaft kümmert. Ähnlich wie bei der Diskussion zwischen Valérie Rabault und Lars Feld am Vorabend wurden auch hier die Unterschiede und sogar Gräben zwischen Frankreich und Deutschland deutlich. Wie so oft dürfte die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen – doch um sich zu treffen, müssten sich beide aufeinander zu bewegen. Was nur dann möglich wäre, wenn man einräumen würde, dass man nicht auf der ganzen Linie richtig liegt. Und das scheint vor allem in Deutschland sehr schwer zu fallen – sich in Frage zu stellen und Fehler einzuräumen, scheint keine allzu deutsche Tugend zu sein…

Auf jeden Fall war diese Diskussion erhellend und wichtig – je mehr Franzosen und Deutsche über solche grundlegenden Fragen gemeinsam diskutieren, desto eher wird es beiden möglich sein, eigene festgefahrene Positionen zu überdenken und – vielleicht gemeinsam wichtige gesellschaftliche Änderungen anzugehen.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste