Ein Satz, den man genauer lesen sollte

Hinein in den Trubel der Wiedereröffnung der Terrassen und Geschäfte sagte Präsident Emmanuel Macron am Mittwoch einen Satz, an den sich die Franzosen noch erinnern werden.

"Die Zahlen steigen. Ihr bringt nicht genug Opfer und seid selbst schuld!"... Foto: Zentralbibliothek Solothurn / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Die Impfkampagne in Frankreich läuft auf Hochtouren, rund ein Drittel der Bevölkerung hat eine Impfdosis erhalten, fast 10 Millionen gelten als „durchgeimpft“. Trotzdem sind die Zahlen in Frankreich immer noch höher als in anderen Ländern. Als am Mittwoch das Leben in Frankreich wieder hochgefahren wurde und die Menschen für ein paar Stunden die Terrassen, Kinos und Geschäfte stürmten, da sagte Emmanuel Macron einen Satz, der ziemlich vielschichtig war. Nachdem er den guten Fortschritt der Impfkampagne als „gemeinsame Anstrengung“ gelobt hatte, sagte er dies: „Wenn die Zahlen sinken, dann bringen die Franzosen und Französinnen Opfer“.

Jetzt wissen wir’s. Die Entwicklung der Pandemie hängt davon ab, ob wir Opfer bringen oder nicht. Mit etwaigen politischen Entscheidungen, beispielsweise in der Gesundheitspolitik der letzten 15 Monate, hat das alles also gar nichts zu tun. Es ist die Opferbereitschaft des Volks, die den Ausschlag gibt. Wir haben es ja gehört – „wenn wir Opfer bringen, sinken die Zahlen“. Klingt schön. Bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass wenn die Zahlen steigen, wir keine Opfer bringen. Und das ist ein rhetorisch geschickt ausgestellter Blankocheck für die Regierung, die in der bisherigen Pandemie wirklich keine Bäume ausgerissen hat. Sollten nach den gerade erfolgten Öffnungen und einem langen Himmelfahrts-Wochenende und dem nun folgenden Pfingst-Wochenende, an denen Millionen Franzosen unterwegs sind, die Zahlen wieder steigen, dann sind WIR schuld. Denn wir haben dann keine oder nicht ausreichende Opfer gebracht.

Damit kann die Regierung die gesamte Verantwortung für ihre Entscheidungen auf ganz viele Schultern verteilen – nämlich alle. Was an Maßnahmen klappt, das schreibt sich die Regierung auf die Fahne (praktisch, so kurz vor wichtigen Wahlen und im Vorfeld des Superwahljahrs 2022…) – was immer schief geht, geht auf die Kappe der Allgemeinheit. Nun warten wir also auf den Anstieg der Inzidenz aufgrund mangelnder Opferbereitschaft fürs Vaterland. Ganz schön pathetisch, so eine Gesundheitspolitik.

Man kann sich kaum vorstellen, dass dem Präsidenten, der von Beratern, Stilisten, Imageexperten und Choreographen gecoacht wird, solche Sätze einfach nur herausrutschen. So einen Satz sagt Macron nicht so dahin. Mit diesem Satz stellt er ab sofort die Regierung und damit natürlich auch sich selbst von allen Konsequenzen der Pandemie frei. Sollte der Reise-, Urlaubs- und Öffnungstrubel für einen erneuten Anstieg der Fallzahlen führen, so, wie es fast überall passiert ist, wo man ähnliche Öffnungs-Strategien verfolgte, dann ist nur einer Schuld. Nicht etwa das Virus, auch nicht die Regierung, sondern das Volk.

Aber, so teilt uns der Präsident mit, wir haben die Möglichkeit, dieses Virus zu stoppen. Es reicht, dass wir genügend Opfer bringen. Denn, so wissen wir jetzt, dann sinken die Zahlen.

Wenn diese Pandemie eines Tages tatsächlich vorbei ist, dann wird es sehr schwer werden, die Geschehnisse zu analysieren. Denn vorsorglich wirft man bereits heute verbale Nebelkerzen, mit denen sich irgendwann der Blick eintrübt und man gar nicht mehr genau weiß, wer wann was gesagt und entschieden hat. Dann bleibt eine einfache Erklärung: „Wenn die Zahlen sinken, dann bringen die Franzosen Opfer“. Oder „Wenn die Zahlen steigen, hatten die Franzosen keine Lust, Opfer zu bringen.“ Hinter der zweiten Aussage steht allerdings ein gewaltiges „Selbst schuld!“. Und das gehört dort nicht hin.

Seit Beginn der Pandemie haben alle Regierungen Fehler gemacht. Das ist verständlich, denn eine Pandemie dieser Tragweite war nicht vorhersehbar. Doch dann gibt es Länder, in denen so etwas wie ein Unfehlbarkeits-Dogma der Machthaber gibt und Länder, in denen die Verantwortlichen es schaffen, Fehler einzugestehen, zu analysieren und in der Folge zu vermeiden. In den „Unfehlbarkeits-Ländern“ braucht man hingegen Sündenböcke, um das eigene Versagen zu bemänteln. Und dort ist eben das Volk an allem Schuld. Weil es nicht „opferbereit“ war.

Bleibt die Frage, ob es eigentlich Berater gibt, die mehr als nur Claqueure des Präsidenten sind und diesem auch ab und zu mal sagen, dass es gar nicht falsch wäre, in einer ohnehin schon angespannten Situation nicht weiter diese Arroganz gegenüber seiner eigenen Bevölkerung an den Tag zu legen?

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