Der „Literarische Adventskalender“ (22)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 22 – „Die Novizin“

Im Schatten der wunderschönen Kathedrale passieren reichlich unchristliche Dinge... Foto: Stefan Böhm / CC-BY-SA 4.0int

Kapitel 22 – Die Novizin

Pfarrer Sipp hatte für ihn um neun Uhr einen Termin mit der Priorin des Klosters vereinbart. Die Obernonne hieß Schwester Leonore. Sturni genoss die Fahrt in seinem alten Renault Scénic über Land. Er war selbst in Ribeauvillé, einem wunderschönen Weindorf nahe Colmar, aufgewachsen und würde seinen Wurzeln immer treu bleiben. Das Kloster befand sich in einer kleinen Gemeinde am Fuße der Vogesen, unweit des Mont Sainte-Odile.

Nostalgisch dachte er an ihren gemeinsamen Ausflug zurück, den er mit Margaux und Christian auf diesen mythischen Berg des Elsass unternommen hatte. Der Wochenendtrip erschien ihm wie aus einer anderen Welt. Margaux und er waren frisch verliebt, er trauerte immer noch seiner Ex-Frau hinterher, und auch Christian hatte seitdem einen enormen Entwicklungssprung gemacht.

Nun würde er demnächst erneut Vater werden, die Hochzeit stand bevor … und er hatte einen neuen Mordfall am Hals. Es kam ihm vor wie ein Déjà-vu. Diesmal würde er alles anders machen, diesmal würde seine Ehe nicht an seinem Job zerbrechen. Die letzten Wochen ließen allerdings befürchten, dass ihn die Dämonen seiner Vergangenheit wieder einholen könnten, Oriane als Gast in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung, ein neuer Mordfall, der ihn voll und ganz forderte – und eine hochschwangere Margaux, die er mit Hochzeitsvorbereitungen, Umzug und vielem mehr allein ließ.

***

   „Cédric, das trifft sich ja gut, dass du anrufst! Gerade habe ich an dich gedacht. Kommst du zur Hochzeit und wirst mein Trauzeuge?“

Sein alter Schulfreund Cédric Zeller, mit dem er sich in den letzten Jahren wieder eng angefreundet und der ihm bei der Lösung seiner letzten beiden großen Fälle geholfen hatte, klingelte durch, als die Klostermauern schon in Sichtweite waren.

„Klar komme ich. Schließlich wird man nicht alle Tage als Trauzeuge ausgewählt. Mutig von dir, dass du dich schon wieder ins nächste Eheabenteuer stürzt. Von der Institution bin ich nach meiner ersten Ehe endgültig kuriert. Ich liebe meine Freiheit und werde sie für nichts und niemanden wieder aufgeben.“

Da sprach sein Freund einen wunden Punkt an. Seit Tagen trieb es ihn um. Hatte er einen Fehler begangen? War die Entscheidung vielleicht überstürzt? Nun gut, die Eheschließung war ein wenig den Umständen geschuldet, der Nachwuchs war nicht geplant, allenfalls billigend in Kauf genommen, und dann ging auch noch alles schneller als gedacht. Da konnte man dann auch gleich heiraten, dachte er damals, als er Margaux den Antrag gemacht hatte. Doch tief in seinem Unterbewusstsein rumorte es. War das der Grund, weshalb er sich derzeit nicht gut fühlte, Schweißausbrüche und Schwindelanfälle hatte?

„Störe ich? Du ermittelst doch nicht gerade mit Hochdruck in einem Mordfall? Bestimmt nicht, sonst hättest du mich schon längst konsultiert, richtig? Schließlich sind wir ein unschlagbares Team.“

Sein Freund Zeller hatte seine gute Laune wiedergefunden, nachdem er bei ihrem letzten gemeinsamen Fall seine ehemalige Geliebte Zoé Le Coq verloren hatte. Die mutige Journalistin war bei einem Bombenattentat ums Leben gekommen, unmittelbar nachdem sie Sturni hochbrisante Unterlagen übergeben hatte. Zeller hatte lange unter ihrem Tod gelitten, doch die Zeit heilte alle Wunden, insbesondere bei Frohnatur Cédric Zeller, dem lebensbejahendsten und hedonistischsten Menschen, dem er je begegnet war.

„Ich ermittle tatsächlich wieder in einem Mordfall. Doch dieses Mal kannst du mir bestimmt nicht weiterhelfen. Bei meinem aktuellen Fall geht es ausnahmsweise einmal nicht um die große Politik. Eine Freundin von Olivia, die zwei Wochen bei mir gewohnt hat, wurde ermordet. Die Geschichte könnte irgendetwas mit einem alten Buch zu tun haben. Ich habe mal Olivia eingeschaltet, die kennt sich ja aus mit so was, alte Bücher, meine ich …“

„Wenn Olivia an dem Fall dran ist, brauchst du mich bestimmt nicht mehr!“

Olivia und Cédric hatten sich bei seinem letzten Fall kennengelernt. Natürlich waren seine polygam veranlagten Freunde schnell gemeinsam im Bett gelandet. Die beiden mochten sich, dachten aber gar nicht daran, eine feste Bindung miteinander oder mit irgendjemand anderem einzugehen. Er hingegen war relativ schnell nach seiner gescheiterten Ehe eine feste Beziehung eingegangen, die nun in Family Reloaded enden würde.

„Ist sonst alles in Ordnung bei dir? Geht es dir gut?“

Ging es ihm gut? Diese so einfache Frage war so schwer zu beantworten … Nein, eigentlich ging es ihm nicht besonders gut, der Schwindel, die Kopfschmerzen. Nur hatte er gerade wirklich keine Zeit, sich damit zu beschäftigen, wie es ihm wirklich ging.

„Ja, alles bestens bei mir. Wir sprechen dann in Ruhe bei der Hochzeit. Ich freue mich, dass du dir die Zeit nimmst.“

Bei der Hochzeit … Da war es schon zu spät für ein tiefschürfendes Gespräch unter Männern, engen Freunden zumal, über die Frage, ob er gerade im Begriff war, einen riesengroßen Fehler zu begehen. Aber es half alles nichts.

Er nahm sich fest vor, sich besser um Margaux zu kümmern, als er in den Klosterhof einbog. Schließlich wurde er Vater, hatte Verpflichtungen. Kein guter Zeitpunkt für grundsätzliche Bedenken oder sonstige Gefühlsduselei.

***

Die Priorin erwartete ihn am Eingang. Sturni war froh, dass er Pfarrer Sipp nicht über den Mord an Oriane Jacquesson unterrichtet hatte. Er hätte Schwester Leonore sofort darüber informiert und ihr Gespräch hätte dadurch eine ganz andere Qualität bekommen. Nun dachte sie allenfalls, dass er interessehalber noch einer Sachbeschädigung im Münster nachgehe, auch wenn die Zuständigkeit für den Fall schon längst bei seinen Kollegen lag. Außerdem kam er auf Empfehlung des netten Pfarrers Sipp, einer der ihren.

„Seien Sie willkommen in unserem schönen Kloster!“

Die Obernonne sah genau so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte. Eine gestrenge, ältere Frau. Wer wurde heutzutage schon noch freiwillig Nonne oder Mönch? Für Sturni war das eine völlig fremde Welt, ein anderes Universum, nur eine halbe Autostunde von Straßburg entfernt.

Sie war gekleidet in ein schwarzes Habit, über dem sie ein Skapulier trug, das bis zum Boden reichte. Ihren Kopf bedeckte eine weiße Haube, die das zu einem Dutt zusammengebundene Haar komplett verdeckte und darüber noch einen schwarzen Schleier. Die klassische Bekleidung einer Nonne eben, zumindest nach Sturnis laienhafter Wahrnehmung. Ein jahrzehntelanges asketisches Leben hatte sich tief in ihre Gesichtszüge eingegraben. Die Priorin bat ihn gleich in ihr Arbeitszimmer.

„Alphonse Sipp hat mir von dem schrecklichen Vorfall im Münster erzählt. Das ist Gotteslästerung!“

Die Priorin schien zutiefst empört über den unerhörten Vorgang, der sich vor drei Tagen im Straßburger Münster zugetragen hatte.

„Ich hoffe, dass Sie den Täter bald zur Strecke bringen und er seiner gerechten Strafe zugeführt wird, nicht nur vor unserem Herrn Jesu!“

Sturni musste sich erst einmal sammeln, auf das Wesentliche konzentrieren, ohne dass die Priorin Verdacht schöpfte. Er schien der Einzige zu sein, den die zerstörte Figur nicht die Bohne interessierte. Es fiel ihm schwer, sich in die Gedankengänge von Menschen zu versetzen, die die Welt nur durch ihre religiös geprägte Perspektive sahen und nicht so, wie sie tatsächlich war.

Jeder Mensch hat seine eigene Realität. Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, sofern die Regeln des französischen Strafgesetzbuches nicht verletzt werden, dachte er sich, und versuchte, eine gute Atmosphäre für seine Befragung zu schaffen.

„Ja, natürlich. Wir arbeiten mit all unseren Kräften daran.“

„Ich helfe Ihnen natürlich, wo auch immer ich kann. Auch wenn ich nicht so ganz verstehe, weshalb Sie in der Angelegenheit zu uns kommen. Keine unserer Nonnen kommt als Täterin infrage, das versteht sich ja von selbst. Unseren Herrn Jesu beschädigen, soweit kommt’s noch!“

„Davon gehe ich fest aus. Dennoch habe ich einige Fragen an Sie, die uns bei unseren Ermittlungen vielleicht weiterhelfen können.“

Das Gespräch entwickelte sich bestens. Hätte er die Priorin damit konfrontieren müssen, dass er in einem Mordfall ermittelte und eine Person in geistlichem Gewand, vermutlich eine Frau, als potenzielle Täterin gesucht wurde, wäre die Gesprächsatmosphäre bestimmt eine andere gewesen …

„Alles, was dem Willen unseres geliebten Herrn entspricht, können Sie von mir erwarten.“

Sturni überlegte sich, wie er vorgehen sollte. Oriane war vor zwei Tagen in den frühen Morgenstunden gegen fünf Uhr ermordet worden. Das wusste er inzwischen von Gerichtsmediziner Arbogast. Er überschlug die Zeitschiene im Kopf. Angenommen, eine Nonne des Klosters war tatsächlich die Täterin, dann hätte sie sich gegen fünf Uhr, also nach dem Mord, von der Île Coléo wieder ins Kloster begeben, damit ihr Verschwinden dort nicht auffiel.

Clochard Dieu hatte ausgesagt, dass sich die Mörderin mit einem Boot von der Insel entfernt hatte. Stimmte diese Aussage, so musste man einige Zeit für die Flucht einplanen, mit dem Ruderboot musste sie im Stockdunkeln erst einmal zur nächsten Anlegemöglichkeit gelangen, wo sie vielleicht ein Auto abgestellt hatte, mit dem sie dann wieder zurück ins Kloster fahren konnte. Außerdem hatte Oriane im Todeskampf ihr Gewand beschädigt, sie konnte also nicht morgens so einfach zum Dienst erscheinen, musste sich umziehen, duschen, et cetera. Bestimmt war sie schmutzig von der nächtlichen Fahrt, dem lehmigen und feuchten Untergrund auf der Insel und ihrem Kampf mit Oriane. Vor 7.15 Uhr konnte sie also kaum vor den anderen Nonnen in einem vorzeigbaren Zustand erschienen sein.

„Können Sie mir sagen, wie der Tagesablauf in ihrem Kloster aussieht?“

Priorin Meyer sah ihn überrascht an, beantwortete dann jedoch akribisch seine Frage.

„Unser Orden hat sich dem Grundsatz „ora et labora! – bete und arbeite!“ verschrieben, der von unserem Ordensgründer, dem heiligen Benedikt, vorgegeben wurde. Schon morgens um sechs Uhr versammeln wir uns in unserer Kapelle zum Morgengebet. Nach dem Frühstück singen wir gegen sieben Uhr den Lobgesang. Zwischen acht und zehn Uhr ziehen wir uns in unsere Kammern zurück zum meditativen Gebet. Ab zehn Uhr beginnen wir unsere Arbeit, die wir, unterbrochen vom Mittagessen, bis halb sechs Uhr abends ausüben. Dann werden wir von den Kirchenglocken zum Abendgebet gerufen. Im Anschluss arbeiten wir noch einmal, bis wir gegen halb acht zu Abend essen, in Stille, begleitet von einer Lesung einer unserer Schwestern. Danach versammeln wir uns gegen halb neun noch einmal in der Kapelle zum abendlichen Gesang. Erst dann begeben wir uns in unsere Kammern zur Meditation und Nachtruhe.“

Sturni war schockiert. Wie konnte man sich so etwas antun, freiwillig, Tag für Tag? Sei’s drum, jeder war seines Glückes Schmied. Er hatte erfahren, was er wissen musste.

Die Nonnen versammelten sich jeden Morgen um sechs Uhr zum gemeinsamen Gebet, dann Frühstück und Lobgesang, wieder alle zusammen. Die Mörderin, wenn seine Vermutung stimmte, konnte frühestens zum Frühstück oder zum gemeinsamen Lobgesang zu den anderen Nonnen gestoßen sein.

„Gab es am Morgen vor zwei Tagen ein besonderes Vorkommnis? Ist eine Ihrer Nonnen zu spät zum Dienst erschienen?“

Die Priorin blickte ihn befremdet an.

„Sie vermuten also doch eine unserer Nonnen als Täterin?“

Die Sachbeschädigung an der Figur im Münster hatte schon einen Tag vorher stattgefunden, aber das war der Obernonne vielleicht nicht so präsent. Umso besser …

„Seien Sie unbesorgt. Es handelt sich um reine Routinefragen. Keine Ihrer Nonnen wird verdächtigt, die wertvolle Jesusfigur im Münster beschädigt zu haben.“

Und damit hatte er nicht einmal gelogen. Aber eine ihrer Nonnen könnte einen Mord begangen haben, an Oriane Jacquesson. Die Priorin schien angestrengt nachzudenken.

„In der Tat ist vor zwei Tagen unsere Novizin erst während des Lobgesangs erschienen. Ich erinnere mich noch gut, da das bei ihr bisher noch nie vorgekommen ist. Sie ist eigentlich ausgesprochen zuverlässig. Wir sind sehr froh, dass wir sie gewinnen konnten. Junger Nachwuchs ist in unserem Orden inzwischen selten geworden, zumindest in Europa. Aus Afrika und Südamerika haben wir manchmal noch junge Nonnen, die zu uns kommen. In Frankreich ist so etwas inzwischen eine echte Rarität.“

Warum nur…? Bei den Konditionen? Vielleicht sollten sie es mal mit einem chasseur de têtes, einem Headhunter versuchen …

„Eine Novizin?“

„Bitte verzeihen Sie. Ich kann nicht erwarten, dass Sie mit den Gepflogenheiten unseres Ordens vertraut sind. Valerie Geiler steht kurz vor ihrer ersten Profess, sie ist – laienhaft gesprochen – noch eine Nonne in Ausbildung.“

Volltreffer! Und er hatte sogar schon ihren Namen. Geiler? Hatte er den Namen nicht kürzlich schon einmal gehört? Richtig, Johann Geiler von Kaysersberg, der berühmte Prediger aus dem Spätmittelalter, für den die Kanzel im Straßburger Münster errichtet und die lustige Hundefigur an die Kanzel angebracht worden war. Geiler, Arbogast, waren das noch Zufälle?

Sturni war verwundert, wie man sich in der heutigen Zeit freiwillig für so ein Leben entscheiden konnte, aber wie gesagt, jeder musste selbst zusehen, wie er glücklich wurde.

„Pfarrer Sipp hat mir erzählt, dass Sie hier die Hostien für die Messen im Straßburger Münster herstellen.“

„Das ist korrekt. Unser Kloster muss sich wirtschaftlich tragen, auch wenn wir natürlich nicht darauf aus sind, große Gewinne zu erzielen. Wir backen Hostien streng nach den Vorgaben des Kirchenrechts. Außerdem besteht die Möglichkeit, in unserem Kloster gegen ein geringes Entgelt zu übernachten. Darüber hinaus betreiben wir ein wenig Landwirtschaft.“

„Ist auch Frau Geiler an der Fertigung der Hostien beteiligt?“

„Natürlich, als quasi Auszubildende versuchen wir, sie in alle unsere Tätigkeitsbereiche einzulernen. Das Backen der Hostien ist ihre Lieblingsbeschäftigung.“

Nun war Sturni endgültig überzeugt davon, auf der richtigen Spur zu sein. Er musste diese Valerie Geiler sprechen, sofort und persönlich.

„Ich würde Frau Geiler gerne einige Fragen stellen, wenn Sie gestatten?“

Die Missbilligung stand der Priorin nun deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber es half nichts, sie hatte ihm und Pfarrer Sipp schon ihre vollumfängliche Unterstützung zugesagt.

„Unter einer Bedingung. Ich geleite Sie und nehme an dem Gespräch teil. Eigentlich müssten die Nonnen schon mit ihrer Arbeit begonnen haben, aber vielleicht finden wir Valerie noch auf ihrem Zimmer. Folgen Sie mir!“

Sturni war gespannt wie ein Flitzebogen. Würde er gleich Orianes Mörderin kennenlernen? Und wenn ja, wie könnte er sie des Mordes überführen?

***

Über den Hof ging es in den Gebäudetrakt, in dem sich die Schlafgemächer der Nonnen befanden. Er folgte der Priorin einen langen Gang entlang, an dem sich die kleinen Kämmerchen der Nonnen nacheinander aufreihten. Die Obernonne klopfte leise an, als sie an Valerie Geilers Tür angekommen waren. Keine Antwort. Sie klopfte erneut. Als wieder keine Reaktion aus dem Zimmer kam, bediente die Priorin vorsichtig die Türklinke. Die Tür war nicht verschlossen.

Kaum, dass Sturni einen freien Blick in das Zimmer hatte, stieß er die erstarrte Priorin gewaltsam zur Seite und stürmte hinein. Rasch stellte er den umgestoßenen Holzstuhl in der Mitte des Zimmers auf, sprang darauf und machte sich sofort an dem Gurt zu schaffen, der um Valerie Geilers Hals geschnürt war. Mit aller Kraft riss er an der Gürtelschnalle, die der Novizin die Luft zum Atmen nahm. Ihr lebloser, nackter Körper sackte in seine Arme, nachdem es ihm gelungen war, die Schnalle zu lösen. Behutsam legte er sie auf dem Boden ab, beugte sich über sie und versuchte, ihren Puls und ihren Herzschlag zu erspüren. Die Frau war tot. Er begann mit der Reanimation und schrie die Priorin an, sie solle einen Notarzt rufen.

Erst jetzt erwachte Schwester Leonore aus ihrer Schockstarre. Sturni hatte ihr sein Diensthandy zugeworfen. Sie wählte den Notruf und alarmierte den Notarzt. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie die Sirenen hörten und der Arzt neben ihnen auftauchte.

Sturni war am Ende seiner Kräfte. Es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, eine leblose Person zu reanimieren. Es war unglaublich anstrengend und zumeist ohne Erfolg. Bestimmt hatte er ihr bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung einige Rippen gebrochen, aber darauf kam es in dieser Extremsituation nicht an.

Valerie Geiler musste erst kurz vor ihrem Eintreffen erstickt sein. Die Notärzte gaben sie noch nicht auf, unternahmen noch einen Versuch mit dem Defibrillator, doch es war vergeblich. Die Novizin war von ihnen gegangen, unwiederbringlich. Um 10.25 Uhr stellten sie offiziell den Tod der Nonne fest, eine Überführung in ein Krankenhaus machte keinen Sinn mehr. Wäre er nur etwas früher dran gewesen, hätte beim Gespräch mit Leonore Meyer nicht so gebummelt, dann wäre die junge Novizin jetzt noch am Leben. Er machte sich schwere Vorwürfe.

Sturni rief zuerst Isinger, dann Josmeyer und zu guter Letzt Arbogast an. Es würde einige Zeit dauern, bis sie aus Straßburg herbeigeeilt waren.

Nachdem der Notarzt sich verabschiedet hatte, bat er die Priorin, allein im Zimmer verweilen zu dürfen, bis seine Kollegen eingetroffen seien. Zuerst zog er Handschuhe aus Latex an, die er immer bei sich führte, um keine weiteren DNA-Spuren zu hinterlassen. Er nutzte die Zeit, um sich den Tatort genau einzuprägen. Ihr Zimmer war spartanisch eingerichtet. Zwei Frauen, tot, innerhalb von nur zwei Tagen, die eine ermordet, die andere freiwillig aus dem Leben geschieden, vermutlich. Wie bei Oriane handelte es sich bei Valerie Geiler um eine junge und dazu noch sehr attraktive Frau. Wie konnte man sich nur in so jungen Jahren für ein Leben in Enthaltsamkeit entscheiden? Wie konnte man seinem Leben aus eigenem Antrieb ein Ende bereiten, wenn man doch in der Blüte seines Lebens stand? Sturni war schon zu vielen Selbstmorden gerufen worden, aber er verstand es einfach nicht. Sterbenskranke kämpften um jede Sekunde ihres Lebens, und andere, die eigentlich alles hatten, wie Valerie Geiler, warfen es einfach weg.

***

Weshalb hatte sie sich nackt erhängt? Das war ungewöhnlich. Er hatte schon mehrere Selbstmorde durch Erhängen aufnehmen müssen, doch immer waren die Selbstmörder bekleidet gewesen. Die Kleidung lag wild zerstreut im kleinen Zimmer, als habe sie sie vor ihrem Selbstmord im Zustand geistiger Umnachtung vom Leib gerissen. Beim Blick auf ihre Unterwäsche wurde er stutzig. Valerie Geiler hatte vor ihrem Tod ziemlich knappe, auf erotische Wirkung abzielende Spitzenunterwäsche getragen. Das überraschte, bei einer angehenden Nonne … Er hob den Slip auf, der achtlos auf den Boden geworfen worden war. Aubade, Margaux’ Lieblingsmarke für Damenunterwäsche, gehobenes Preissegment, sexy … die Marke passte zu Margaux, Mode für eher üppige Körbchengrößen … aber zu Valerie Geiler, einer Novizin? Sturni machte eine Anmerkung in seinem Notizbuch: „Aubade?!“

Er öffnete die Tür ihres Kleiderschranks. Drei Kutten hingen ordentlich aufgehängt in dem kleinen Schrank. Er holte sie heraus und legte sie auf ihr Bett, wo er sie genau in Augenschein nahm.

Da war es! Da war das Gewand, nach dem er gesucht hatte. Zwei der Kleidungsstücke waren frisch gewaschen, gebügelt, wirkten ungetragen, doch das Dritte stach ihm sofort ins Auge. Es wirkte intensiv getragen, mehr noch, es war richtig schmutzig. Dreck und Brotreste klebten darauf. Auf Brusthöhe war es eingerissen, ein Stück Stoff fehlte komplett. Den Stofffetzen musste ihr Oriane in ihrem Todeskampf herausgerissen haben. Vermutlich hatte sie sich in ihr Kleid gekrallt, als sie nach dem Stich ins Herz sterbend in sich zusammengesackt war. Er würde Josmeyer darum bitten, einen Abgleich mit den Stoffresten unter Orianes Fingernägeln mit diesem Nonnengewand vorzunehmen.

Nun war er sich ganz sicher. Valerie Geiler hatte Oriane ermordet und sich zwei Tage später selbst gerichtet. Er hatte die Mörderin überführt, leider wenige Momente zu spät, sonst hätte sie sich vor Gericht für ihre Tat verantworten müssen.

Julien Josmeyer würde die Spuren auf der Kutte untersuchen und seinen Verdacht bestätigen, DNA-Spuren von Oriane auf dem Kleidungsstück, Erde, die von der Île Coléo stammte. Der Fall war für ihn klar. Nur würde er niemanden dafür ins Gefängnis stecken können, die Mörderin hatte sich dem weltlichen Arm entzogen und würde sich nun vor ihrem Herrgott verantworten müssen.

Er blickte sich weiter im Zimmer um und fand nach kurzer Suche, wonach er noch Ausschau gehalten hatte. Im Nachttisch neben ihrem Bett fand er in einer Schublade ein Mobiltelefon. Auf den ersten Blick sah er, dass es sich um Orianes Handy handelte, die Schutzhülle mit dem Hello-Kitty-Aufdruck hatte Margaux extrem geschmacklos gefunden …

Er würde das Handy umgehend an seinen Kollegen Auguste Romain und dessen IT-Nerds übergeben. Vielleicht hatte Oriane kurz vor ihrem Tod ja noch Telefonate geführt, die Rückschlüsse darauf zuließen, wie es zu dem ominösen Treffen mit Valerie Geiler auf der Gutenberg Insel gekommen war und weshalb die Novizin Oriane ermordet hatte.

Die Kollegen von der Spurensicherung würden Aufnahmen machen, vom Tatort, vom Zimmer, von der toten Valerie Geiler. Sturni hoffte, dass Auguste Romain sie niemals zu Gesicht bekommen würde … Die nackte, soeben verstorbene Valerie Geiler war ebenmäßig schön, grazil, schlank, natürlich, ohne die bei Oriane Jacquesson künstlich vergrößerten sekundären Geschlechtsmerkmale.

Kaum war er mit seiner Inspektion des Zimmers fertig, da hörte er auch schon die Sirenen der Polizeiwagen im Hof des Klosters vorfahren, Isinger und Josmeyer hatten wirklich keine Minute verloren. Auch Jacques Arbogast war auf dem Weg zu ihnen, wie Isinger ihm per WhatsApp mitgeteilt hatte.

Sturni hatte genug gesehen. Er gab einige Instruktionen und informierte Josmeyer über seinen Verdacht, dass es sich bei Valerie Geiler um die Mörderin von Oriane Jacquesson handelte. Dann überließ er den Tatort den Experten.

Sein Fall war zu Ende, bevor er richtig begonnen hatte. Sturni war fast ein wenig enttäuscht: Mordfall geklärt, Mörderin tot…

***

Er war auf dem Weg zu seinem Auto, als er eine Nachricht von Olivia erhielt:

„Sitze im TGV nach Straßburg. Deine Fotografien sind eine Sensation! Ich muss persönlich mit dir darüber sprechen. Kannst du mich um 12.41 Uhr am Bahnhof in Straßburg abholen? Kann ich ein paar Tage bei euch übernachten? Ich muss der Sache nachgehen. Ich muss Orianes letzte Forschungsarbeit vollenden!“

Sturni schluckte. Übernachten? Das war denkbar ungünstig. Was Margaux wohl dazu sagen würde? Andererseits, sie mochte Olivia. Es würde schon gut gehen, irgendwie …

Immerhin hatte Olivia sich sofort in den Zug gesetzt, um ihm bei seinen Ermittlungen zu helfen, auch wenn er den Fall inzwischen gelöst hatte. Vielleicht war es trotzdem interessant, zu erfahren, was für ein wichtiges Buch Oriane vor ihrer Ermordung gestohlen und fotografiert hatte.

Wo war es eigentlich, das Buch? Müsste Valerie Geiler es nicht an sich genommen haben? Weshalb hatte er es dann nicht in ihrem Zimmer gefunden? Nach seiner Theorie hatte Oriane das Buch gestohlen, es dann mit zum Treffen auf die Île Coléo genommen, um es Valerie Geiler zu zeigen, zu verkaufen, oder was auch immer. Valerie tötet Oriane und entwendet ihr das Buch. So weit, so gut, doch wenn dem so war, dann müssten sie es irgendwo im Umfeld von Valerie Geiler finden. Sturni machte eine weitere Notiz in seinem Block: Wo steckt das Buch?

Dann antwortete er Olivia:

„Ich hole dich gleich am Bahnhof ab. Danke für deine Hilfe!“

Er drückte aufs Gaspedal. Mühsam setzte sich sein alter Scénic in Richtung Straßburg in Bewegung. Übernachten … das konnte ja heiter werden.

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Straßburger Glaubensbekenntnis“ erscheint demnächst als Taschenbuch und ist bereits jetzt als E-Book erhältlich!

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