NATO, Aukus, militärische Selbstbestimmung…

Für Olivier Védrine wird es dringend, dass sich Europa zu einer gemeinsamen Verteidigungs-Strategie zusammenfindet…

Professor Olivier Védrine, Chefredakteur des "The Russian Monitor". Foto: Olivier Védrine

(Olivier Védrine) – Bei einem informellen Treffen Anfang September in Slowenien, haben die europäischen Verteidigungsminister ausführlich über den Afghanistan-Konflikt gesprochen und auch über die Unfähigkeit der 27 Mitgliedsstaaten, sich selbst zu verteidigen. Nach ihrer Ansicht ganz oben auf der Prioritätenliste: Die Definition eines „strategischen Kompass“ für die Zukunft der EU auf der internationalen Bühne, zusammen mit dem neuen Projekt einer europäischen Eingreiftruppe, die im Notfall mobilisiert werden kann. Aber was kann dabei herauskommen, in diesem Klima der strategischen Uneinigkeit und dem Vertrauensverlust unter den Partnern nach der Affäre „Aukus“?

Dieses Treffen, das am Donnerstag 2. und Freitag 3. September 2021 stattfand, erfolgte kurz nach der Veröffentlichung der Stellungnahme des Chefs der europäischen Diplomatie Josep Borrell in der „Corriere Della Sera“, in der er dazu aufrief, die Lektionen aus der Afghanistan-Erfahrung zu ziehen: „Als Europäer waren wir nicht in der Lage, 6000 Soldaten nach Kabul zu entsenden, um dort den Bereich des Flughafens abzusichern. Die Amerikaner konnten das, wir aber nicht“. Diese weitgehende militärische Abhängigkeit der EU von den USA erscheint inzwischen als ein großes Problem für die Union. Außer Frankreich verfügt kein EU-Mitgliedsstaat, vor allem nach dem Ausstieg von Großbritannien, über eine Armee, die über ausreichende Mittel verfügt, um punktuell Operationen außerhalb Europas durchzuführen. Die europäischen Verteidigungsminister sind sich in diesem Punkt einig: Das Afghanistan-Debakel sollte als Elektroschock dienen, um endlich ein dauerhaftes militärisches Instrument ins Leben zu rufen. Zwar wurde nach dem Jugoslawienkrieg über die Gründung einer Einheit mit 50.000 Soldaten diskutiert, doch wurde dies nicht umgesetzt. Zehn Jahre später, im Jahr 2007, wurden taktische Einheiten mit jeweils 1500 Soldaten gebildet, doch das Ergebnis war das gleiche.

Kann die Abkehr von der Einstimmigkeit für Einstimmigkeit sorgen? – Das Treffen von Anfang September gehörte zu einer im letzten Jahr begonnenen Debatte über die Stärkung der europäischen Verteidigung und eine „strategische Autonomie“ der 27 im Management externer Krisen. Angesichts des amerikanischen Rückzugs aus Konfliktzonen ist klar, dass die USA –zumindest momentan- auf die Rolle des „Weltpolizisten“ verzichten und daher müssen die europäischen Überlegungen an Geschwindigkeit zulegen. Es bestehen allerdings ernsthafte Zweifel an der Fähigkeit der Europäer, ein solches Projekt erfolgreich durchzuführen, vor allem, wenn man bedenkt, dass die EU noch nie in der Lage war, ihre „taktischen Einheiten“ einzusetzen, da es noch nie zur erforderlichen Einstimmigkeit für deren Aktivierung gekommen ist. Zu diesem Punkt befragt, fordert Josep Borrell in seiner Antwort die Einrichtung von „etwas, was operationeller sein muss“. Im gleichen Sinn rief der slowenische Verteidigungsminister Matej Tonin, dessen Land die wechselnde Präsidentschaft der EU innehat, dazu auf, die Regel der Einstimmigkeit abzuschaffen und stattdessen ein neues System einzurichten, mit dem es möglich sein soll, Truppe aus „willigen Ländern“ im Namen der 27 Mitgliedsstaaten zu entsenden, wenn eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten damit einverstanden ist. Die Verteidigungsministerin Deutschlands, Annegret Kramp-Karrenbauer, schlug in einem Tweet am 2. September vor, dass „Koalitionen aus willigen Ländern“ künftig gemeinsam solche Krisen handhaben sollen. In Washington hat diese Perspektive, die weder beunruhigt, noch beleidigt, eine offene Reaktion des Weißen Hauses zur Folge gehabt.

Ein zerbrechliches Europa stellt sich Fragen – In Europa ist es ein offenes Geheimnis: Trotz ihrer früheren und aktuellen Unstimmigkeiten – Großbritannien ist klar gegen eine europäische Armee und die Länder im Osten Europas, die ebenfalls nicht begeistert von dieser Idee sind, dafür aber sehr am Schutzschild der NATO und dem amerikanischen Schutz gegen Moskau hängen—der Brexit und das Debakel in Afghanistan sind zwei wichtige Faktoren, die eine Wiederaufnahme der Debatte über eine europäische Armee befeuern. Ein weiteres Element, das man berücksichtigen muss, wenn man über die Möglichkeiten eines solchen militärischen Projekts spricht: die Sahelzone, von der die Stabilität des Mittelmeer-Raums für die Union teilweise abhängt. Sollte sich Frankreich aus dieser Region zurückziehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass zahlreiche Länder dadurch geschwächt würden oder in die Hände krimineller oder terroristischer Gruppen fallen könnten. Angesichts der geographischen Nähe zu Europa, wären die Konsequenzen für die EU besonders beunruhigend: Massive Migrationswellen, Einrichtung terroristischer Basen, die in der EU aktiv werden könnten und eine Stärkung von Schmuggelaktivitäten aller Art.

Die U-Boot-Affäre, Aukus: zu viel „Verrat“? – Und dann war da auch noch diese andere Affäre: Am Mittwoch, den 15. September, am frühen Morgen, erhielt Frankreich ein Schreiben, aus dem die Zufriedenheit der australischen Regierung hervorging, dass die französische Naval Group 12 Angriffs-U-Boote an Canberra für einen geschätzten Wert von 56 Milliarden Euros liefert. Wenige Stunden später wurde dieser Deal von Canberra widerrufen und stattdessen bestellte Australien mindestens 8 Atom-U-Boote auf der Basis amerikanischer und britischer Technologie, im Rahmen der Ankündigung einer neuen Dreier-Militär-Allianz AUKUS zwischen Australien, den USA und Großbritannien in der indo-pazifischen Region – und von dieser neuen Allianz sind sowohl Paris als auch die EU ausgeschlossen. Solidarisch mit Frankreich drückten sowohl die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, als auch der Präsident des Europäischen Rats Charles Michel ihr „Erstaunen“ aus und verurteilten diesen „Mangel an Solidarität“, den Paris sogar als „Verrat“ durch seine Partner und Verbündete bezeichnete.

In Frankreich, von der Kommunistischen Partei bis zum Rassemblement National, sprachen sich in der Folge mehrere Politiker als Reaktion für einen Rückzug Frankreichs auf der integrierten Kommando-Struktur der NATO aus. Dieser Punkt könnte im französischen Präsidentschafts-Wahlkampf 2022 eine Rolle spielen, in dem die Positionierung von Emmanuel Macron genau unter die Lupe genommen werden wird. Dieser hatte, nachdem Frankreich auf Bitte von Nicolas Sarkozy 2009 erneut in die integrierte Kommando-Struktur eingestiegen war, vom „Hirntod“ des transatlantischen Verteidigungsbündnisses gesprochen, dass nach einer Existenzberechtigung sucht und auch nach neuen Zielen, nachdem die Sowjetunion implodiert war.

Denn neben einem einfachen geplatzten U-Boot-Deal war die Ankündigung der Einrichtung des militärischen Dreier-Pakts Aukus, der bis dahin von den betreffenden Ländern geheim gehalten worden war und der zum Ziel hat, den chinesischen Vormarsch in der indo-pazifischen Zone zu kontern, von Paris und einigen europäischen Partnern als „Dolchstoß“ unter Partnern betrachtet worden, wie der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian seit zwei Wochen wiederholt. Dazu vergleicht er die Methoden von Joe Biden mit denen von Donald Trump, „nur ohne die Tweets“, betreffen doch die Konsequenzen direkt die geostrategischen Interessen eines verbündeten Staats und Mitglieds der EU in dieser Region.

Spiegel und Spaltung(en) – Muss dieser Vertrauensbruch als Reaktion zum Ausstieg Frankreichs aus der integrierten Kommando-Struktur der NATO führen, so, wie es am 7. März 1966 General de Gaulle getan hatte, der den Amerikanern und Briten bereits am 17. September 1958 in einem Memorandum mitgeteilt hatte, dass –Spiegel der Geschichte– die „NATO nicht mehr den Erfordernissen unserer Verteidigung entspricht“? Mit der Legitimität seiner Wiederwahl ins höchste Staatsamt entschied sich der General für einen diplomatischen Paukenschlag: „Frankreich“, so schrieb er am 7. März 1966 an seinen amerikanischen Amtskollegen Lyndon B. Johnson, „schlägt vor, wieder seine Souveränität über sein ganzes Staatsgebiet zu übernehmen, die momentan von der ständigen Präsenz militärischer Elemente der Verbündeten oder auch der Nutzung des Luftraums beeinträchtigt wird, weswegen Frankreich die integrierte Kommando-Struktur verlässt und der NATO keine Truppen mehr zur Verfügung stellt“, wobei er immerhin unterstrich, dass Frankreich weiterhin bereit sei, „an der Seite seiner Verbündeten zu kämpfen, falls einer von ihnen angegriffen werden sollte, ohne einen solchen Angriff provoziert zu haben“.

Es ist heute schwer vorherzusagen, wohin diese Affären führen werden, sowohl für Frankreich, als auch für die Europäische Union, von der man schon lange erwartet, dass sie endlich ihre Handlungen im Bereich der Verteidigung auf ihren Diskurs anpasst. Aber daran sollten alle denken: eine Allianz ist keine Unterwerfung, und schon gar kein Instrument, das man für Respektlosigkeiten und Verrat nutzt. In diesem Spiel der « kleinen Morde unter Freunden » scheint Biden auf eine gewisse Weise Wladimir Putin und den Feinden unserer Demokratie geholfen zu haben, die sich nun in einem militärischen Projekt zusammenfinden, von dem sie schon länger geträumt hatten: Das Lager des Westens –zumindest temporär- zu spalten.

Olivier Védrine ist Professor (h.c.), Chefredakteur des The Russian Monitor, Mitglied des Orientierungs-Ausschusses des Vereins Jean Monnet

© EuTalk / www.eutalk.eu – ISSN 2116-1917 / Dieser Beitrag ist der Ausdruck einer persönlichen Meinung des Autors. Er spiegelt nur die Meinung des Autors und keinesfalls der Institution wider, für die er arbeitet. Dieser Artikel erscheint, wie alle Artikel der Kooperation zwischen EuTalk.eu (Französisch), The Russian Monitor (Russisch) und Eurojournalist(e) bei uns in deutscher Sprache.

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