Pazifist in der Ersten Person Singular – Teil 1: Atomkrieg? Nein Danke!

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären.

Bombenerfolg – die größte Attraktion in Igors Heimatstadt Banska Bystrica ist das Museum, das dem slowakischen Aufstand am Ende des Zweiten Weltkriegs gegen die deutschen Besatzer gewidmet ist. In Schaukästen werden Waffen, Medaillen oder Uniformen gezeigt: Bomben über halb Europa auf dem Rücken einer Pilotenjacke. Foto: ©Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du für Verständnis bei Deinen Landsleuten für die Bewohner aus dem Westen unseres Kontinents wirbst. Dass Du darlegst, dass die Sorge vieler Menschen im Westen vor einem Atomkrieg nicht bloß ihrer diffusen Angstbesessenheit entspringt, sondern durchaus eine Berechtigung hat. Allerdings ist zunächst einmal die Berechtigung der alten Angst der Bewohner der ehemaligen Ostblockstaaten vor Putin und dem russischen Imperium voll und ganz bestätigt worden. Trotzdem rufst Du Deine Leser dazu auf, nicht nur in der eigenen Sichtweise zu verharren, sondern auch einmal in die westlichen Medien zu schauen. Es fänden sich darin Argumente für die Zurückhaltung in diesem Krieg, die man zwar nicht teilen müsse, aber die man sich durchaus einmal anhören sollte. Also bitte:

Wie erklärt man zarten Seelen zarte Seelen? Denn selbst, wenn man es gegenseitig nicht wahrhaben will: Beiderseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs leben besonders zartbesaitete Menschen; Menschen nämlich, die auf moralische Zumutungen der jeweils anderen Seite der einstigen Grenze zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt besonders empfindlich reagieren. Und zwar schon lange vor dem Krieg in der Ukraine.

Wie im Brennglas durfte ich das gegenseitige moralische Unverständnis so manches Mal im Straßburger Europäischen Parlament beobachten. Etwa, wenn einmal wieder einer der Regierungschefs aus Europas mittlerem Osten vor dem Plenum Rede und Antwort stehen musste. Wie verwerflich war für die einen, die vornehmlich aus dem Westen des Kontinents stammen, die Weigerung zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. Und wie konterten die anderen, die aus dem Osten, jeden moralischen Vorwurf mit dem Verweis auf die Gaspipeline Nord Stream 2 und den Kuschelkurs gegenüber dem autoritären Regime von Putin, der eben jenen Krieg um Syrien führt, vor dem die Menschen fliehen.

Ich gebe zu, als gelernter Westmensch meine ich natürlich, dass es bei der Rechtsstaatlichkeit keine Kompromisse geben darf. Allerdings sehe ich auch, dass beim westlichen Moralisieren gen Osten dessen oftmals historisch bedingten Befindlichkeiten kaum geachtet wurden. Wie flugs haben wir den Ostmenschen die Zugehörigkeit zur europäischen Wertegemeinschaft abgesprochen – ein wenig schien es, als müssten die Ressentiments, die Menschen nun einmal hegen, nach Möglichkeit politisch einwandfrei irgendwo abgeladen werden, warum also nicht in Ostmitteleuropa. Ja, es war eine Art von Populismus nach westlicher Manier. Und jetzt, eine Zeitenwende später, sind sie es, die den moralischen Zeigefinger auf den Westen richten und allen voran den Deutschen Laschheit im Eintreten für die eigenen Werte vorwerfen. Die jetzige Diskussion ließe sich in etwa so zusammenfassen: Ätsch, jetzt seid ihr die Doofen – Aber bedenkt doch unsere historisch bedingte Zurückhaltung – Heult doch, ihr jammerlappigen Leberwürste… Auf Französisch nennt man diese Art des fruchtlosen Ideenaustausches einen „dialogue de sourds“, also ein Gespräch unter Gehörlosen.

Angstfreier Dialog – Wollen wir auch diesen neuerlichen Dissenz wirklich weiter auf diesem Niveau austragen? Nein, meint nicht nur Igor und verweist auf die westseitige Angstzwickmühle: Entweder man bedrängt Putin so sehr, auf dass er aus Verzweiflung den Atomknopf drückt; oder man lässt ihn so lange machen, dass er vor dem Einsatz der Nuklearwaffen auch nicht mehr zurückschreckt. Beide Szenarien lähmen den Kriegswillen im Westen, und beide Ängste – so die Botschaft von Igor an seine Landsleute – sind in Anbetracht der beiderseitigen Atomwaffenpotentiale nicht einfach mal so wegzuwischen. So hat Igor also die Sichtweise der Vorsichtigen wohl richtig beschrieben und tatsächlich gehöre ich auch zu jenen, die beim Kriegführen äußerst ängstlich sind. Allerdings liegt bei mir der Fall doch noch etwas anders. Meine Scheu vor dem Krieg gründet sich nicht auf der Angst vor dem Atomschlag.

Nein, um mich steht es noch schlimmer als Igor befürchtet – und ich werde nun mutig in die Offensive gehen und in vier Kapiteln versuchen darzustellen, wie sich meine Haltung, die eine Zurückhaltung ist, selbst in Anbetracht der Gräuel rechtfertigen lässt. Dabei werde ich allerdings nicht taktisch vorgehen, sondern mit offenem Visier, also mich ganz und gar auf diese innere Haltung verlassen. Ob ich dann schon verlassen bin, wenn ich mich auf mich verlasse, darüber mögen schließlich die Leser befinden.

In diesem ersten Teil muss ich – auch vor Igor – erst einmal ein Geständnis ablegen: Vor dem Atomkrieg habe ich nämlich gar keine Angst. Ich hatte während des Kalten Krieges, als sich die Arsenale mit der weltzerstörenden Sprengkraft gegenüber standen, keine Angst, und ich habe sie heute nicht. Ein Atomkrieg wäre einfach eine Nummer zu endgültig, um darüber besorgt sein zu können. So wenig man seinen eigenen Tod denken kann, ebenso wenig lässt sich auch das Ende der Menschheit vorstellen. Es wäre doch auch wenig hilfreich für unser heute zu lebendes Leben, sich mit seiner kompletten Auslöschung zu beschäftigen. Alles, was nach der Menschheit käme, ist völlig irrelevant für uns. Die Konsequenz eines Atomkriegs ist so absurd, dass nicht einmal die Angst einen Anknüpfungspunkt findet – oder anders ausgedrückt: Nicht die angstbesessenen Menschen sind verrückt, sondern die nukleare Bewaffnung ist es.

Lernziel: Bombenliebe – Trotzdem kann man sich vor der Bombe fürchten. Und wir Menschen im Zeitalter der Moderne sollten uns diese Angst vielleicht auch besser bewahren. Eine psychologisch grundierte These aus dem Ende der 1980er Jahre sah in der Atombombe nämlich einen Ersatz für Gott. Demnach konnte sich die Erfindung dieser Überbombe nur in einer monotheistischen Denkkultur vollziehen, die zwar ihren unmittelbaren Gottesglauben verloren hat, aber nicht auf die Funktion Gottes verzichten kann. Die Bombe darf nämlich ebenso wenig explodieren, wie Gott sich erzürnen dürfe. Um die jeweilige Apokalypse zu verhindern, müssen beide die Drohkulisse aufrechterhalten, die schließlich für eine zivilisierte Nichtangriffsordnung unter Feinden sorgt.

Nun liegt aus moderner Sicht der Erfindung des Allmächtigen und der Atombombe nicht derselbe Prozess zugrunde. Eine dem Einfluss des Menschen entzogene Figur des allmächtigen Gottes wurde nach den Theorien der Verhaltensforschung gesucht und erfunden, weil erste Menschengemeinschaften eine wirkmächtige Instanz brauchten, die einsteht für die Wichtigkeit allgemein notwendig erachteter Gebote, deren Befolgung aber ohne einen Gott nur schwer durchzusetzen war. Die Bombe mit dem vielfachen Übertötungspotential hingegen ist wohl eher das logische Endprodukt in der technischen Entwicklung von zunehmend effektiveren Vernichtungswaffen. Und trotzdem gebieten beide, Gott und Bombe, sich allen Fragen nach ihrem Sinn zu enthalten: sie sind da, Punkt, Diskussion beendet. Nun gilt es, entsprechend ihrer Präsenz richtig zu handeln beziehungsweise jedes vorschnelle Handeln zu unterlassen. Gäbe es die Bombe nicht, man müsste sich ein anderes Disziplinierungsinstrument erschaffen. Immerhin: diese Anstrengung zumindest können wir uns ersparen, denn die Atombombe lässt sich nicht mehr wegerfinden, egal, wie sehr man sich auch noch um Abrüstung bemühen wird.

Die Angst vor einem Atomkrieg mag also keine wirklich konkreten Formen annehmen können, doch was uns heute wirklich beängstigen kann, sind die Auslösungsszenarien für einen atomaren Erstschlag. Im Kalten Krieg, als sich eiskalt berechnende Strategen gegenüber standen, blieb als Auslöser eines atomaren Schlagabtausches nur der Zufall übrig: Ein blöder technischer Fehler oder menschliches Versagen und eine Bombe wäre unterwegs gewesen. Und dann? Sorry, das sollte nicht passieren, nehmt’s nicht persönlich, kommt nicht wieder vor – wie hätte man auf diesen Anruf vom Roten Telefon auf der anderen Seite der Leitung reagiert? Gut, dass eine praktische Antwort auf diese Frage nie eingefordert wurde.

Bombenkrieg ohne Bombe – Bis vor Kurzem hatte die Atombombe vielleicht nur einen tatsächlichen militärischen Effekt gehabt: Ihre Besitzer können im herkömmlichen Krieg gegen die Besitzlosen mindestens ebenso brutal, wenn nicht gar noch rücksichtsloser vorgehen, als vor ihrer Existenz. Die nuklear gerüsteten Verbündeten des Gegners würden ihre Bombe deshalb schon nicht zünden – dieses Kalkül galt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für Korea, Kuba und Vietnam und es gilt offensichtlich noch heute für die Ukraine. Die Kernwaffen haben für die eiskalten Strategen der Atommächte das Spiel mit dem offenen Feuer im Grunde unmöglich werden lassen, aber dafür den Militärtaktikern auf dem konventionellen Feld einen immer hemmungsloserem Einsatz an Material und Menschen ermöglicht. Soweit gilt das wohl auch noch heute, zumindest scheinen wir uns im Osten der Ukraine auf beiden Seiten mehr und mehr auf eine immer größere Materialschlacht zuzubewegen.

Würde weiterhin der Einsatz von Kernwaffen einzig der eiskalten Berechnung unterliegen, dürfte sich ihr Einsatz selbst auf diesem Schlachtfeld und wegen dessen Einbettung in die globalen Zusammenhänge verbieten. Doch leider gibt es heute wohl noch ein anderes Auslösungsszenarium für die Atombombe, das tatsächlich zur tiefen Besorgnis Anlass bieten darf: Sollte sich jetzt noch ein Atomschlag ereignen, stünde dahinter die Absicht eines eiskalt unberechenbaren Menschen. Und die Fragen, die hinter diesem Szenarium stehen, müssen lauten: Wozu sind Menschen fähig, die sich in die Ecke gedrängt fühlen? Drückt ein in seinem Größenwahn gekränkter Machtmensch den Roten Knopf? Werden ihm in ihrem kollektiven Mystizismus gedemütigte Menschen auch dann noch Folge leisten?

Die Auslösungsangst entzündet sich also nicht mehr an der Bombe selbst, sondern an einer unterstellten Absicht von Menschen und Menschengemeinschaften oder gar an der Vorstellung vom Wesen des Menschen schlechthin. Sie basiert in gewisser Weise auf der Angst des Menschen vor sich selbst – und kann uns diese Angst nicht wirklich das Fürchten lehren?

Igors Blog findet sich HIER – allerdings auf Tschechisch. Aber keine Angst: eine automatisierte Übersetzung vermittelt einen ausreichend guten Eindruck vom Inhalt. Und im zweiten Teil dieser Betrachtung wiederum darf dann nicht nur Igor erfahren, warum wir im Westen und vor allem in Deutschland so sind, wie wir sind. Und natürlich auch, warum ich so bin, wie ich bin, und warum eigentlich alle so sind, wie sie nun einmal sind. Zumindest in manchen Momenten…

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