Und wo ist das sanitäre Europa?

Seit anderthalb Jahren stricken die Regierungen an sanitären Maßnahmen und vermeintlichen Lösungen. Auf nationaler Ebene. Und warum probiert man es nicht mit Europa?

(KL) – Anderthalb Jahre Pandemie, Lockdowns, Einschränkungen, geöffnete und geschlossene Grenzen, regionale Maßnahmen, Impf- und Test-Kampagnen, Ausgangssperren und – wir befinden uns in der „vierten Welle“. Obwohl es sich um eine Pandemie handelt, die sich per Definition über Landes- und Regional-Grenzen hinweg verbreitet, gibt es nach wie vor keine europäische Strategie zur Bekämpfung dieses Virus. Im Gegenteil – die völlig unterschiedlichen Maßnahmen in den europäischen Ländern sorgen dafür, dass wir heute eine Art „Jojo-Effekt“ erleben. Mal sinken die Zahlen hier, dafür steigen sie dort, bevor sie dort wieder sinken, um hier zu steigen. Das kann endlos so weitergehen, es sei denn, man entscheidet sich endlich, europäisch zu denken und zu handeln.

Die Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten“, sagt man kühl in Brüssel, doch diese Aussage reicht in einer pandemischen Situation nicht aus. Denn das Virus ist eben nicht Sache der Mitgliedsstaaten, sondern ein internationales, weltweites Phänomen, das man logischerweise nicht auf regionaler oder nationaler Ebene bekämpfen kann. Es ist geradezu rätselhaft, warum der europäische Ansatz bislang der einzige ist, den man nicht ausprobiert hat und der nicht einmal zur Diskussion steht. Aber warum eigentlich?

Gewiss, die Aussage „Die Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten“ ist formal richtig. Doch ist eine Pandemie, die sämtliche Volksgesundheiten und –Wirtschaften gefährdet, ein Umstand, der erfordert, dass man Regeln außer Kraft setzt, die zu einem Zeitpunkt eingeführt wurden, zu dem sich niemand vorstellen konnte, dass eine solche Pandemie eintritt. Und Tatsache ist, dass diese Pandemie nichts, aber auch gar nichts Nationales hat, weswegen die „Ergebnisse“ nationaler Anstrengungen nicht mehr sein können als Momentaufnahmen.

Der Beginn der „vierten Welle“ zeigt es deutlich: Das Absinken der Inzidenzen in den meisten europäischen Ländern in den Monaten Juni und Juli hat leider nichts zu besagen. Da es sich um ein grenzüberschreitend mobiles Phänomen handelt, steigen nun in der mobilen Urlaubszeit die Inzidenzen überall, auch dort, wo sie noch vor wenigen Tagen im einstelligen Bereich lagen. Aufgrund der Weigerung, einen europäischen Pandemie-Ansatz zu entwickeln, kann dieses Auf und Ab endlos weitergehen. Noch einmal und zum Mitschreiben: Man kann eine Pandemie nicht national bekämpfen!

Wir werden uns mit dieser Pandemie und deren Folgen so lange weiter auseinandersetzen müssen, so lange die EU-Mitgliedsstaaten meinen, sie national und teilweise sogar regional bekämpfen zu müssen. Doch welche Wirkung kann europaweit erzielt werden, wenn man beschließt, beispielsweise in den französischen Ferienzentren die Bars um 23 Uhr zu schließen? Richtig – überhaupt keine. Abgesehen davon, dass dieser hilflose Aktionismus der eigenen Bevölkerung suggerieren soll, dass man aktiv in der Bekämpfung der Pandemie ist, dürfte die kontinentale Wirkung einer solchen Maßnahme gegen Null gehen.

Alle europäischen Regierungen wollten ihren entnervten Bevölkerungen wenigsten schöne Sommerferien ermöglichen. Das ist sehr nett von den Regierungen, doch haben sie damit nichts anderes getan, als diese „vierte Welle“ anzuheizen, mit deren Folgen wir uns ab dem Spätsommer konkret beschäftigen müssen.

Zu irgendeinem Zeitpunkt wird uns das institutionelle Europa andere Vorschläge machen müssen als „Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten“. Maßnahmen müssen harmonisiert werden, damit sie sich nicht gegenseitig aufheben, Ressourcen müssen gemeinsam mobilisiert werden, Entscheidungen müssen gemeinsam getroffen werden. Bislang hat es naturgemäß keine Regierung geschafft, das Infektionsgeschehen länger als zwei Wochen einzudämmen. Dies wird auch nicht passieren, so lange die europäischen Staaten nicht gemeinsam gegen die Pandemie vorgehen.

Das 750 Milliarden Euro-Paket, das die europäischen Institutionen auf den Weg gebracht haben, ist eine gute Sache, trägt aber keineswegs zur Bekämpfung der Pandemie bei. Die gemeinsame Bestellung von Impfdosen war eine gute Idee, die innerhalb von Tagen von zahlreichen Ländern unterlaufen wurde, die ihre eigenen Bestellungen aufgegeben haben. Auch hier findet keine gemeinsame Bekämpfung der Pandemie statt.

Allerdings darf sich in dieser Situation niemand wundern, wenn die EU als Ganzes in Frage gestellt wird. Unter dem Hinweis auf Paragraphen eine gemeinsame Bekämpfung einer gemeinsamen Bedrohung zu verweigern, ist ein strategischer Fehler. Wozu nützt Europa, wenn es sich in einer derartigen Krise hinter Paragraphen verschanzt, um nicht aktiv zu werden?

Nach anderthalb Jahren der erfolglosen, nationalen Bekämpfung eines permanent weiter mutierenden Virus sollten wir es begriffen haben: Nein, man kann eine Pandemie nicht national und regional bekämpfen. Genau das erleben wir nun seit geraumer Zeit. Der beste Wille reicht nicht, ein immer mobileres Virus auf nationaler Ebene zu bekämpfen. Dass man es in einer solchen Situation nicht schafft, wenigstens temporär bestimmte nationale Kompetenzen zugunsten einer echten Bekämpfung dieses Virus auf Europa zu übertragen, ist die politische Bankrotterklärung der europäischen Institutionen.

Man darf gespannt sein, wann der nächste „-xit“ stattfindet und welches Land es den Briten gleichtun wird. Es wird allerhöchste Zeit, dass die Brüsseler Beamten endlich anfangen, pragmatisch europäisch zu denken und zu handeln. Sehr lange können wir uns diese wirkungslosen nationalen Ansätze nicht mehr leisten…

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