Wir brauchen eine neue Welt-Doktrin

Die jüngsten Ereignisse zeigen es deutlich – unsere aktuelle Doktrin hat sich überlebt. Wir müssen akzeptieren, dass nicht die ganze Welt nach unseren Wünschen funktioniert.

Auf dem Bismarck-Denkmal in Berlin steht die richtige Nachricht... Foto: Leonhard Lenz / Wikimedia Commons / CC0 1.0

(KL) – Die westlichen Geheimdienste haben sich alle getäuscht. Nachdem alleine die USA weit über 80 Milliarden Dollar (!) in die Ausbildung und Ausrüstung der regulären afghanischen Armee investiert hatte, ging der Westen davon aus, dass das Land über eine schlagkräftige und gut ausgerüstete Armee verfügen würde, die unsere „westlichen Werte“ bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde. Weit gefehlt – kaum waren die westlichen Armeen Hals über Kopf abgezogen, übergaben die afghanischen Soldaten ihre Waffen den Taliban und kapitulierten. Auf der anderen Seite standen ihre Landsleute und die afghanischen Soldaten hatten keinerlei Veranlassung, gegen diese zu kämpfen. Diese Entwicklung, die von allen Geheimdiensten völlig falsch eingeschätzt wurde, muss dazu führen, dass der Westen seine Doktin überdenkt. Die Zeiten, in denen es darum ging, Drittländern die Wohltaten der westlichen Demokratie überzustülpen, obwohl dies in vielen dieser Länder gar nicht gewünscht ist, sind vorbei.

Dabei ist Afghanistan nicht das einzige Beispiel. In Mali ist die Situation nicht viel anders. Und wenn man einmal ehrlich ist, so wie es einst der frühere Bundespräsident Horst Köhler in Afghanistan bei einem Truppenbesuch war, dann muss man endlich klar sagen, dass wir in diesen Ländern nicht etwa die „Freiheit“, die „Demokratie“ oder sonst etwas verteidigen, sondern lediglich unsere wirtschaftlichen Interessen schützen. Dies würde uns natürlich wesentlich leichter fallen, würden diese Länder so funktionieren wie wir selbst. Nur, das tun sie eben nicht.

Länder wie Afghanistan oder Mali haben völlig andere Strukturen als die unseren. Zahlreiche Stämme und Ethnien leben dort seit Jahrhunderten zusammen, kooperieren oder bekriegen sich gelegentlich, sind zumeist feudal organisiert und haben mit Ideen wie der Demokratie nicht viel am Hut. Vielleicht ist es an der Zeit, dies einfach zu akzeptieren, statt wie zu Kreuzfahrerzeiten bewaffnet durch die Welt zu ziehen und den Menschen anderswo unsere tolle Demokratie mit Gewalt näherzubringen. Zumal unsere westlichen Demokratien momentan alles andere als leuchtende Beispiele sind.

Die Korruption, die wir in anderen Ländern anprangern, haben wir auch bei uns. Vielleicht nicht auf dem Bürgermeisteramt, wo wir einen Ausweis beantragen, dafür aber zwei Stockwerke darüber, wo beispielsweise über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen entschieden wird.

Unsere aktuelle Doktrin ist im Grunde nicht viel mehr als die Fortführung des Kolonialismus, nur mit leicht veränderten Mitteln. Mit moderneren Mitteln, doch das Prinzip ist das gleiche. Wir wollen Länder nach unserem Vorbild ummodeln, was diese Länder allerdings überhaupt nicht wollen.

Dass uns bestimmte kulturelle Codes in anderen Teilen der Welt nicht gefallen – na und? Dass Länder von Monarchen oder nach uns fremden religiösen Codes regiert werden – na und? Müssen wir wirklich das Leben junger Soldaten und irrwitzige Geldbeträge opfern, um zu versuchen, diese Länder nach unserem Vorbild zu verbiegen?

Die Rechtfertigungen für diese mörderischen Einsätze sind oft an den Haaren herbeigezogen. In Mali ist die offizielle Begründung für den westlichen Militäreinsatz, dass man dort „den Terrorismus bekämpft“. Aha. Wie viele Terroranschläge durch malische Terroristen haben wir in Europa erlebt? Richtig, keinen. Aber das hält die französische Armee (unterstützt von der Bundeswehr) nicht davon ab, weiterhin in Mali aktiv zu sein. Dabei berichten französische Militärs, dass die malischen Soldaten bei ihren Einsätzen extrem unmotiviert zu Werke gehen und offenbar keine Lust haben, engagiert an der Seite der Franzosen zu kämpfen. Warum soll sich Mali nicht selbst um sein Problem mit dem Terrorismus kümmern? Eine solche Haltung würde natürlich nicht bedeuten, dass man solchen Ländern nicht hilft, wenn diese darum bitten. Aber ihre Probleme sollten die Länder zunächst einmal selbst angehen.

Was in Ländern wie Mali oder Afghanistan passiert, ist schlimm. Nur – ist es wirklich unsere Aufgabe, in diesen Ländern „für Ordnung zu sorgen“? Horst Köhler hatte völlig Recht – unsere Armeen stehen in diesen Ländern, um dort die wirtschaftlichen Aktivitäten unserer Großkonzerne zu schützen. Würde es nicht mehr Sinn machen, dass diese Konzerne eben nur noch dort investieren, wo sie Bedingungen vorfinden, die ein sicheres Arbeiten ermöglichen?

Heute will niemand mehr „Weltpolizei“ spielen. - Die USA haben begriffen, dass sie dabei nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren haben; Russland hat nicht mehr die finanziellen Möglichkeiten, sich als Ordnungsmacht aufzuspielen; China verfolgt keine politischen, sondern wirtschaftliche Interessen und arbeitet mit jedem Regime zusammen, mit dem man Geld verdienen kann. Und Europa? Europa spielt im internationalen Konzert ohnehin keine Rolle und die Zeiten, in denen sich Frankreich, England, Portugal, Spanien, Deutschland und andere die Welt teilten, sind vorbei.

Internationale Organisationen wie die UNO, die heute politisch nur noch Papiertiger sind, müssten aufgewertet und mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden, um im Fall massiver Menschenrechtsverletzungen eingreifen zu können. Die Länder, die nicht nach unserem (nicht unbedingt nachahmenswerten) Prinzip funktionieren, müssen lernen, mit ihren eigenen Problemen klarzukommen.

Auslandseinsätze wie in den letzten 20 Jahren in Afghanistan sind ein Anachronismus, der Hundertausende Menschenleben gekostet hat und dessen Nachhaltigkeit bereits vor Ende des Abzugs der Armeen ausgelaufen war.

Wir müssen umdenken. Der „Westen“, aber auch der „Osten“ können nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die „Herren der Welt“ zu sein – dies ist ein Konzept, dass in den letzten Jahrhunderten zu schlimmen und schlimmsten Verbrechen geführt hat, die in vielen betroffenen Ländern immer noch im kollektiven Gedächtnis sind. Künftig kooperiert man entweder auf Augenhöhe, oder man kooperiert eben nicht. Und wir müssen lernen, dass es kein Verbrechen ist, wenn Länder und Weltregionen anders ticken als wird. Je schneller wir das verstehen und umsetzen, umso weniger Menschenleben wird dieser von den Ereignissen diktierte Umbruch kosten.

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