„Wir halten die Fäden in der Hand“

Warum Europa eine Republik werden muss – und wie die ersten Schritte einer Utopie unverhofft rasch gelingen könnten. Ein Interview mit Autorin Ulrike Guérot

Ulrike Guérot hat ihre Visionen für Europa in ihrem Buch "Warum Europa eine Republik werden muss" aufgeschrieben. Foto: (c) Dominik Butzmann

(Von Jo Berlien) – Ulrike Guérot, 52, hat vielleicht das wichtigste Buch der Gegenwart und für die nahe Zukunft geschrieben. „Warum Europa eine Republik werden muss!“ ist Utopie und Appell zugleich. Für ein Europa, das sich von den Vereinigten Staaten von Europa zur Republik fortentwickeln muss, als „ein Geflecht aus regionalen Einheiten und Metropolen, die global denken“. Die Nationalstaaten und die damit verbundenen Egoismen werden überwunden und schaffen Platz für untereinander vernetzte Regionen unter einem gemeinsamen europäischen Dach, dezentral, demokratisch, sozial.

Man muss Europa sehr lieben, um inmitten der vielleicht tiefsten Krise, in der sich die Europäische Union befindet, gegen alle Widrigkeiten so vehement und entschieden für die Europäische Idee zu streiten. Ulrike Guérot verkörpert diese Idee glaubhaft. Anfang der Neunziger Jahre, als die Europäer sich noch für Europa begeisterten – während Gesellschaft wie Politik in Deutschland nach 1989 vor allem mit Innenpolitik beschäftigt waren –, begann die Politikwissenschaftlerin Guérot ihre Karriere. Sie wirkte 1994 am Schäuble-Lamers-Papier mit, in dem die Idee eines Kern-Europa entworfen wurde, und arbeitete bis 1998 im Büro des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Heute ist sie Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Aber als sie als Autorin 2015 mit ihrem Manuskript hausieren ging, bekam sie von diversen Verlagen den symptomatischen Satz zu hören: Europa verkauft sich nicht!

Ihr im Frühjahr 2016 im Dietz-Verlag in Bonn erschienenes Buch stand kurz nach Erscheinen auf der Sachbuch-Bestenliste von Süddeutscher Zeitung und Norddeutschem Rundfunk und danach auch auf der Spiegel-Bestsellerliste. Weil Ulrike Guérot nach 25 Jahren Beschäftigung mit Europa über ein ausgezeichnetes europaweites Netzwerk verfügt, erscheinen 2017 Übersetzungen in Polen, Spanien und den Niederlanden; im niederländischen Fernsehen lief im Dezember eine einstündige Dokumentation zum Thema. Übersetzungen ins Französische und Italienische stehen an.

Wir sprachen mit der Autorin über die europaweiten nationalistischen Reflexe und den langen Weg in eine Republik Europa, auf dem es eine überraschende Abkürzung geben könnte.

Ihr Buch ist seit einem Dreivierteljahr auf dem Mark. Hat sich inzwischen Brüssel bei Ihnen gemeldet?

Ulrike Guérot: Sie kennen den Satz von Gandhi? „First they ignore you, then they ridicule you, then they fight you, and then you win.” – Zur Zeit ist Brüssel – cum grano salis – auf ignore.

Aber es gibt die eine oder andere Reaktion?

UG: Ja. (lacht) Elmar Brok (CDU, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, die Red.) findet das Buch völlig idiotisch. Es gibt einzelne deutsche Parlamentarier bei den Liberalen und bei den Grünen, die in ihren Fraktionen sondieren wollten. Aber von den Fraktionen kommt dann eine Ablehnung: ,Nee, nee, bitte pragmatisch! Bitte keine großen Entwürfe!“

Und bitte bloß kein Vision im politischen Tagesgeschäft, die über die Legislaturperiode hinausreicht…

UG: Ja, genau. Und dann stelle ich mich hin und sage: Passt mal auf, wenn unsere politischen Gegner große Entwürfe haben, der da lautet: Abschaffung EU! Abschaffung Euro!, dann brauchen wir auch einen großen Entwurf! Mit Pragmatismus und kleinen Schritten, die niemand wahrnimmt, könnt ihr nicht gewinnen.

Sie waren zu zwei Lesungen in Brüssel.

UG: Ja, einmal in der Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen vor dem Ausschuss der Regionen vor 700 Vertreterinnen und Vertretern aus ganz Europa. Hier gab es standing ovations für den Plan von einer Republik Europa. Man muss also unterscheiden zwischen dem Kommissions-Brüssel, dem Rats-Brüssel, dem Europa-Parlaments-Brüssel und dem anderen Brüssel.

Verwunderlich ist es nicht, dass das offizielle Brüssel Sie ignoriert. In ihrem Buch schreiben Sie: „Die bestenfalls indirekt autorisierte Macht der EU-Kommission kommt der Tyrannei recht nahe.“ Und: „Die EU produziert die Krise, in der wir uns befinden, uns wird zunehmend selbst zum Problem. Ihr langsames Sterben hat längst begonnen.“

UG: Das Buch ist ein Wut-Buch. Ich habe mir meinen Ärger vom Leib geschrieben über eine Europäische Union, an die ich selber lange geglaubt und für die ich lange gearbeitet habe. Um dann in der Eurokrise, im Jahr 2012, das Gefühl bekommen zu haben: Diese EU funktioniert so nicht mehr! Ich war und bin beruflich wie privat sehr viel unterwegs in Europa. Während der Euro-Krise habe ich im Ausland gehört, wie dort über die Deutschen geredet wurde. Als das politische Deutschland noch der Meinung war: Wir sind die Besten, wir wollen nicht für alle bezahlen!, habe ich in Deutschland gesagt: Überheben wir uns mal nicht, so funktioniert Euroland nicht! Ich war sozusagen Nestbeschmutzerin und habe europäisch argumentiert, wofür ich mich in Deutschland habe abstrafen lassen müssen. Aus diesem Erfahrungswissen ist dieses Buch entstanden.

In dem Sie dazu aufrufen, die EU abzuschaffen…

UG: Ich möchte die EU nicht abschaffen. Auch wenn dies im Buch so anklingen mag. Es geht nicht um Abschaffung! Es geht um ein Vervollständigen: one market, one currency, one democracy. Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie! Es geht nicht darum, alles Erreichte abzuschaffen. Weder den Binnenmarkt noch den Euro. Im Gegenteil! Es ist alles wunderbare Arbeit, dieses Europa, das sich über 50 Jahre hinweg entwickelt hat. Und daraus müssen wir nun eine richtige Demokratie machen, indem wir uns rückbesinnen: Wer ist eigentlich der Souverän? Der Bürger! Bürger gründen eine Republik. Wir brauchen Gewaltenteilung und den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Das sind die drei Kernforderungen des Buches.

Aber die Idee von der Gründung der Republik Europa scheint weiter entfernt denn je – wir erleben eine Renaissance von Nationalismus und Nationalstaaten. Sie sind Politikwissenschaftlerin – wie gewinnen wir gegen die so genannten Rechtspopulisten?

UG: Der Begriff vom „Rechtspopulismus“ ist problematisch. Weil die Parole „Wir sind das Volk“ und ein Anti-Establishment-Kampf nicht rechts sind. Auch der Kampf der Achtundsechziger war Anti-Establishment. Problematisch ist Anti-pluralistisch, wenn sich eine Gruppe herausnimmt zu sagen: Wir sind das Volk, ihr aber nicht! Der Rechte steht auf einem Anti-Europa-Bein und einem Anti-Migrations-Bein. Die AfD in Deutschland hat lange geglaubt, sie könne auf dem Anti-Europa-Bein hüpfen, bis dann Frauke Petry kam und den Bernd Lucke weggefegt hat und der AfD das zweite Bein – das Migrations-Bein – gegeben hat. Beide Themen, Eurokrise und Flüchtlingskrise, sind eng verknüpft.

Und daraus folgt?

UG: In Europa geht es um eine Krise der Repräsentation: Wer repräsentiert das Volk und wie wird es repräsentiert? Auf der Straße oder im Parlament? Der Riss in der Gesellschaft zwischen sog. Establishment und sog. Rechtspopulisten konnte entstehen, weil Argumente immer dialektisch sind: Wir haben das Rechts-Links-Schema herausgenommen aus dem politischen Diskurs. Die Euro-Krise galt als alternativlos. Das heißt: Du kannst wählen gehen, hast aber keine Wahl. In diesem Moment musste sich die Opposition antisystemisch aufbauen. Die Rechte hat, glaube ich, in vielem recht. Sie konnte nur ausgegrenzt werden vom System, weil sie mit rassistisch-völkischem und sexistischem Vokabular daherkommt.

Die Politik hat versucht, die Rechte zu ignorieren. Im Europa-Parlament sitzen die rechtsextremistischen Fraktionslosen im rechten hinteren Winkel.

UG: Man sollte die Rechte differenziert betrachten. Wenn eine Marine Le Pen sagt: „Europa funktioniert nicht!“, dann kann man sagen: Ja, damit hat sie einen Punkt. Was nicht heißt, dass man das ganze Vokabular von Marine Le Pen akzeptiert. Auch wenn die Rechte pöbelt, enthebt uns das nicht der Pflicht, hinzugucken, was die Rechte kritisiert. – Eine als alternativlos gesetzte EU funktioniert nicht mehr. Systeme müssen sich bewegen. Und die EU hat sich in ihre eigene Reformunfähigkeit hineingeredet. Aus dem offiziellen Brüssel kommt kein weitreichendes Gesprächsangebot, wie die EU verbessert werden soll. Die Arbeitslosenversicherung zum Beispiel wurde vom Tisch gewischt. Damit generiert Brüssel tatsächlich einfach Abneigung.

Ihre Vision von einer Republik Europa basiert auf einem Europa der Metropolen und Regionen. Tatsächlich hat die Rechte auch das Regional-Thema besetzt und spielt es gegen ein offenes Europa in einer globalen Welt aus.

UG: Wir dürfen die Region, die Heimat, die Provinz nicht den Rechten überlassen! Es wäre die Aufgabe der Linken, das Thema zu besetzen. Die Frage an Linke und Liberale lautet: Könnte man nicht die produktiv-kreativen Ideen, die zentrale Rolle der Regionen im politischen Gemeinwesen, die Notwendigkeit von Identität, von lokalen Demokratie-Strukturen positiv besetzen und es von progressiv-linker oder liberaler Seite positiv bewerten? So dass wir das, was wichtig ist für organische Gemeinwesen, nämlich Dezentralität und Regionen, den Rechten nicht kampflos überlassen? Das ist das Angebot des Buches: Die Wucht der regionalen Energie für Europa nutzen! Übrigens haben in Deutschland die Grünen schon in den Achtzigern und die CDU Anfang der Neunziger, im Zuge des Vertrags von Maastricht, das Europa der Regionen propagiert.

Aber die Nationalkonservativen halten davon nichts: Die FAZ mag nicht glauben, dass die Nationalstaaten verschwinden und deutscher Föderalismus und französischer Zentralismus je zusammenfinden können.

UG: Ja, schon klar: Die halten das für ein Hirngespinst. Ich meine: Das eigentliche Hirngespinst ist zu glauben, dass die EU so wie sie ist überlebt! Ich sage ja nicht, dass meine Utopie wie ein Teppich ausgerollt und morgen Wirklichkeit wird. Eine Utopie ist immer ein Fluchtpunkt – ein Fluchtpunkt für eine Gesellschaft, um zu wissen, wo sie hin soll. Eine Utopie aufzustellen heißt den ersten Schritt zu machen. Und das tun wir, gerade jetzt im Moment, indem wir darüber reden, indem Leserinnen und Leser diesen Text lesen und darüber diskutieren. Oder indem ich mit dem Buch zur Diskussion in den Saarländischen Landtag gehe. Oder von der Autonomiebehörde Tirol eingeladen werde und vor dem Rat der Regionen spreche. Es sei denn, Sie sagen mir, der Rat der Regionen ist kein realpolitisches Instrument.

Auch die Europäische Zentralbank hat Sie eingeladen.

UG: Ja, auch die EZB hat mich eingeladen. Also entweder ist die EZB Realität, dann bin ich mit der Utopie in der Realität oder aber die EZB ist auch Utopie. Soll heißen: Wir kriegen die Utopie in die Realität, indem wir einfach darüber nachdenken und sprechen.

Das kann dauern. Andererseits: Das Habsburger Reich hatte 650 Jahre lang Bestand, Ende des Ersten Weltkriegs 1918 zerfiel es binnen weniger Tage.

UG: Gandhi hat gesagt: Your beliefs become your thoughts. your thoughts become your words, your words become your actions. Wenn wir nicht darüber sprechen, wie wir das nächste Gemeinwesen bauen, kommen wir nie dahin! Und diese Diskussion, das glaube ich schon, habe ich ein bisschen angestoßen. Wenn wir noch die Absicht haben, ein politisches Gemeinwesen auf diesem Kontinent zu errichten, müssen wir davon ausgehen, dass der allgemeine Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger gilt. Ohne das kein Gemeinwesen.

Nach zwei angezettelten Weltkriegen hatten die Deutschen im 20. Jahrhundert genug von Utopien und den großen Wurf. Inzwischen wird sogar Angela Merkels Strategie des Durchwurstelns mit Karl Poppers Kritischem Realismus zu begründen und philosophisch zu untermauern versucht. Auf Popper bezog sich schon Helmut Schmidt in seiner Abneigung gegen politische Utopien. Fehlt heute der Mut zur Utopie?

UG: Wir können sagen: Wir wollen das nicht. Dann nimmt die Geschichte eine andere Richtung. Aber diese Diskussion zu führen ist die allerwichtigste im Moment und sie findet ja statt, und da bin ich wieder von der Utopie in der Realität: Ganz aktuell wird diskutiert, ob die Briten nach dem EU-Austritt eine assoziierte Unionsbürgerschaft erhalten sollen. Das Thema ist auf dem Tisch, das Europaparlament hat dazu eine Vorlage erarbeitet. Stellen wir uns mal ne Sekunde vor, die Briten erhalten wirklich eine Europäische Unionsbürgerschaft – dann gehe ich zum Europäischen Gerichtshof und sage: Was die Briten können, kann ich auch. Dann kriegen wir alle eine Unionsbürgerschaft, an der Bürgerrechte angedockt sind, schwupp, ist sie da, die europäische Republik.

Eine Revolution ohne Getöse, ohne Massendemonstrationen und Putsch, quasi per Gesetzentwurf und Gerichtsurteil?

UG: Das sind die Fäden der Geschichte, die wir in der Hand halten. Damit kann man wirklich gestalten.

Die Fragen stellte Jo Berlien.

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