Äh, wie bitte?

Aus Großbritannien wird Großabsurdistan. Das, was die britische Regierung und die Opposition gerade im Unterhaus abliefern, wird unfreiwillig komisch. Und keiner hat eine Ahnung, wie es weitergehen soll.

So ungefähr geht es gerade im britischen Parlament ab... Foto: Andreas Praefke / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Lebhaft sind sie, die Debatten im britischen Parlament. Unter der fachkundigen Leitung des unvergleichlichen John Bercow, „Mr. Speaker“, erzählen Boris Johnson, Jeremy Corbyn und die anderen unglaubliche Dinge. Zwischendurch wird auch mal abgestimmt, ebenfalls über seltsame Dinge. Premierminister Boris Johnson hat noch keine dieser Abstimmungen gewonnen. Auch hat er keine Mehrheit mehr im Parlament. Kein Autor hätte sich einen derartigen Plot ausdenken können.

Da redet Boris Johnson von „Verhandlungen mit der EU“, als ob es solche Verhandlungen noch gäbe. Vollmundig redet er davon, dass er bei seinen kürzlichen Besuchen bei Angela Merkel und Emmanuel Macron bedeutende Fortschritte erzielt hätte, mit denen der „Backstop“, die Zwischenlösung für die irische Frage vom Tisch käme. Aber wie kann das britische Parlament über Verhandlungen sprechen, die es gar nicht gibt? Gibt es keine Medien in Großbritannien, die darüber berichtet hätten, dass Angela Merkel und Emmanuel Macron den britischen Regierungschef kühl abgekanzelt hatten? Und woher kommt plötzlich der Vorschlag, um eine weitere Verschiebung des Brexit-Datums bis zum 31. Januar 2020 zu verschieben? Und wie kommt das Unterhaus auf die Idee, die EU würde auch einer vierten Verschiebung des Austrittstermins zustimmen, vor allem, wenn man bedenkt, dass es die britische Regierung bis heute nicht geschafft hat, sich einen Vorschlag für die Frage des „Backstops“ auszudenken?

Und Jeremy Corbyn? Der seit zwei Jahren ständig nach Neuwahlen ruft und diese jetzt in den gestrigen Abstimmungen abgelehnt hat? Ebenso verbissen wie Johnson vertritt Corbyn seine Position, nämlich dass er keine Position hat, außer derjenigen, dass er durchaus für den Brexit ist, aber jetzt erst einmal gegen Neuwahlen?

Worüber reden die dort eigentlich im Unterhaus? Klar, die Opposition, die jetzt in der Mehrheit und damit eigentlich gar keine Opposition mehr ist, will den „harten Brexit“ vermeiden. Das wurde auch gestern so abgestimmt – Johnson wird nun, die Zustimmung des House of the Lords vorausgesetzt, am 31. Oktober keinen „harten Brexit“ durchziehen. Vielmehr muss er, so das neue Gesetz, bei der EU eine erneute Fristverlängerung beantragen. Aber das möchte er nicht, auf gar keinen Fall. Das muss er aber eben doch und zwar dann, wenn es am 19. Oktober, also einen Tag nach Ende des nächsten EU-Gipfels, kein Brexit-Abkommen gibt. Nur – wie kommt dieses Kasperletheater auf die Idee, die EU könnte noch bis zum 31. Januar 2020 die zynische Anwesenheit britischer Europaabgeordneter ertragen wollen.

Regierung und Opposition werfen sich gegenseitig vor, die Demokratie zu schädigen und unter den Rufen von John Bercow („oooooorder!“) werfen sich beide Bänke unfreundliche Dinge an den Kopf. Und alle reden von Demokratie, wobei Demokratie im Vereinten Königreich unter Boris Johnson nicht mehr stattfindet. Dieser hat nach der Abstimmung für den „No-Deal-Brexit“, also das noch von den Lords zu bestätigende Verbot eines vertragslosen Ausstiegs aus der EU, Neuwahlen am 15. Oktober beantragt. Bei den Abstimmungen über diese Neuwahlen kassierte Johnson erneut zwei Niederlagen.

Es wird gelogen, in die Irre geführt, mit falschen Inhalten gepokert. Es wird mit Verfassungskniffen gearbeitet, um mit den Terminen für Neuwahlen oder den Brexit oder sonst etwas zu spielen und niemand versteht mehr die Situation. Die Opposition misstraut der Regierung und diese misstraut ihrerseits der Opposition. Und wie immer wissen alle, wogegen sie sind, aber niemand, was diese Briten wirklich wollen.

Wie es heute im Unterhaus weitergeht, das kann niemand mehr sagen. Aber diese Spannung ist wohl das, was die Briten brauchen. Das Ganze wird vermutlich so lange gehen, bis die EU den Großabsurdistan den Stuhl vor die Tür stellt. Mal schauen, was für seltsame Entwicklungen sich heute ergeben. Prognose? Es wird auf jeden Fall spannend und am Abend wird wieder alles anders sein. Nur wie es mit dem Brexit weitergehen wird, das wird keiner wissen. Aber das interessiert wohl auch gar nicht mehr – aus dem Unterhaus ist ein Kasperletheater geworden.

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