Das Sterben im Mittelmeer interessiert kaum noch

Seit Europa stolz verkündet hat, die Balkanroute geschlossen zu haben, ist das Sterben im Mittelmeer wieder zur täglichen Kurzmeldung geworden. Einzelschicksale interessieren in der Statistik des Todes nicht mehr.

In Schlauchbooten machen sich Flüchtlinge auf den extrem gefährlichen Weg nach Europa. Viele sterben auf dieser Flucht. Foto: Ggia / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Ja, jeder weiß es, Europa hat versagt. Angela Merkel hat versagt, als sie einen zynisches Abkommen mit der Türkei durchgeboxt hat, das vor allem dafür gesorgt hat, dass die Türkei mit dem Rückenwind aus Europa inzwischen seine Menschenrechtsverletzungen mit doppelter Schamlosigkeit begeht, wissend, dass Erdogan und sein Land so gut wie unangreifbar geworden sind. Und weil das so großartig läuft, will Europa nun ein ähnliches Abkommen mit Libyen schließen und plant Ähnliches auch mit den Diktatoren in den ostafrikanischen Staaten. Ach ja, fast hätten wir es vergessen, gestorben wird nun wieder deutlich mehr im Mittelmeer, seit die „Balkanroute“ geschlossen ist. Und der so genannte Krieg gegen die Schlepper ist zur Abschreckung und Vernichtung von Flüchtlingen geworden. Ach ja, und es wird wieder mehr gestorben im Mittelmeer – seit Anfang des Jahres wurden 1.261 ertrunkene Flüchtlinge in den Anrainerstaaten des Mittelmeers angespült. Und das sind „nur“ diejenigen, die nicht auf dem Grund des Mittelmeers liegen und wahrscheinlich nie entdeckt werden.

Dass sich das Sterben im Mittelmeer wieder steigern würde, war jedem klar, nachdem die EU-Oberen so stolz verkündet hatten, dass die Balkanroute nun versperrt sei und seit Griechenland von seinen Nachbarn mit Zäunen und Soldaten isoliert wurde, damit keine Flüchtlinge mehr aus Griechenland in Richtung der anderen EU-Staaten kämen. Angesichts der Tatsache, dass alleine in Libyen rund 200.000 Flüchtlinge auf eine Gelegenheit zur Überfahrt warten, ist jedem klar, dass dies nur bedeuten kann, dass mehr und mehr Menschen versuchen werden, mit seeuntüchtigen und überladenen Nussschalen das Meer zu überqueren. Das tun sie nicht, weil es ihnen Freude macht oder weil sie von unseren Sozialsystemen profitieren wollen, sondern weil sie versuchen, zwischen Milizen, Clans, dem IS, den westlichen und russischen Bombardements ihr Leben zu retten.

Erst die Türkei, jetzt Libyen. – Nachdem die EU unter dem Druck der Bundeskanzlerin Angela Merkel das mehr als fragwürdige Abkommen mit dem mehr als fragwürdigen Recep Tayyip Erdogan durchgeboxt hat, will man nun das Gleiche mit Libyen machen. Einziges Problem – die staatlichen Strukturen in Libyen sind derartig im Chaos versunken, so dass es keine richtig legitimierte Regierung gibt, mit der man ein solches Abkommen unterzeichnen könnte. Zum Glück, denn Libyen als „sicheres Herkunftsland“ zu bezeichnen, ist der Gipfel des Zynismus. Von den rund 6 Millionen Einwohnern des Landes befindet sich fast die Hälfte auf der Flucht und im Land tobt ein kaum nachvollziehbarer Konflikt zwischen Warlords, Clan-Fürsten, Anwärtern auf eine wie auch immer geartete Regierung und dem IS, der auch in Libyen präsent ist. Wer dort gegen wen kämpft, ist von außen kaum zu verstehen, doch klar ist, dass dies ein Land ist, das alles andere als sicher ist.

Die Menschen, die aktuell im Mittelmeer ertrinken, ob die 500 in der letzten Woche oder die 84 Vermissten eines Schiffbruchs vor der libyschen Küste am Wochenende, werden nur noch am Rande als Zahlen registriert. Wir stumpfen gegen das Thema ab, interessieren uns mehr dafür, was sich die Rechtsextremen der AfD in ihr neues Parteiprogramm schreiben. Vermutlich wurde im Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahren so viel gestorben, dass wir gegen die entsprechenden Meldungen abgestumpft sind. Doch genau das dürfen wir nicht.

Wann kommt endlich der “sichere Korridor”? – Da sich nichts an den Fluchtgründen der Menschen aus dieser Region geändert hat, hält der Flüchtlingsstrom an, egal, wo die Strategen der EU, aus den USA, in Moskau und anderswo diese hinleiten. Man kann Menschen nicht von dem Versuch „abschrecken“ ihr Leben zu retten. Man kann aber sehr wohl anders mit der Situation umgehen als in Idomeni, wo sich das Versagen der EU materialisiert. Man kann den seit so langer Zeit geforderten „sicheren Korridor“ für Asyl suchende Flüchtlinge einrichten, der einerseits den kriminellen Schlepperbanden das Geschäftsmodell verhageln, andererseits verhindern würde, dass weiter tausende Menschen bei dem Versuch ums Leben kommen, den „sicheren Hafen“ Europa zu erreichen. Ein solcher „sicherer Korridor“ würde ebenfalls tragische Begleitumstände dieser Fluchtsituation verringern, wie beispielsweise den Umstand, dass 10 000 unbegleitete Flüchtlingskinder einfach in Europa „verschwunden“ sind – man muss das Schlimmste befürchten.

Man darf nicht müde werden, immer und immer wieder gegen die Borniertheit, den Zynismus und das unsolidarische Verhalten der politisch Verantwortlichen zu protestieren, eine Richtungsänderung in der (nicht existenten) europäischen Flüchtlingspolitik zu fordern. Das Unrecht, dass die EU an diesen Menschen begeht, darf nicht zur Normalität werden. Unterzeichnen Sie Petitionen, beteiligen Sie sich an den zahlreichen Initiativen, spenden Sie Geld, kommunizieren Sie. Aber gewöhnen Sie sich nicht an den Umstand, dass jede Woche Hunderte, manchmal Tausende Menschen einen qualvollen Tod sterben, weil unsere Politiker dies in unserem Namen beschlossen haben. Oder, um es mit dem grossen französischen Gesellschaftsphilosophen Stéphane Hessel zu sagen: „Empört euch!“

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