Von Calais bis Mazedonien – Europa bricht zusammen

In Calais wurde ein Teil des Flüchtlingslagers „Dschungel“ mit Gewalt geräumt, an der mazedonischen Grenze warten Tausende Flüchtlinge auf die Weiterreise. Europa verwandelt sich in ein Pulverfass.

Im "Dschungel" von Calais hatten die Flüchtlinge versucht, irgendwie ihr Leben zu organisieren. Die französische Antwort - Tränengas und Schlagstöcke. Foto: K ulbert / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Der Mangel an Solidarität in Europa, die politische Hilflosigkeit der Verantwortlichen, die fehlende Empathie der Europäer mit der humanitären Tragödie der Flüchtlinge aus den Ländern des Mittleren und Nahen Ostens, verwandeln unseren Kontinent gerade in einen Ort der Gewalt und des Hasses, mit dem wir uns noch lange beschäftigen werden. Dabei geht die Gewalt nicht von den Flüchtlingen, sondern von den Staaten aus, die Flüchtlinge inzwischen generell als Bedrohung und Ärgernis behandeln.

Die französischen Behörden haben in Calais den südlichen Teil des zu trauriger Berühmtheit gekommenen Flüchtlingslagers „Jungle“ (Dschungel) geräumt – mit Tränengas und Schlagstockeinsatz. Das „Verbrechen“ der dort unter schlimmen Bedingungen gelebt habenden Menschen: Sie wollten von Calais nach England kommen, was die britischen und französischen Behörden mehr oder weniger erfolgreich verhindert haben. Angesichts der Tatsache, dass die Behörden in Calais keinerlei Anstalten gemacht hatten, den bis zu 6000 Flüchtlingen irgendeine Perspektive aufzuzeigen, ist diese gewalttätige Räumung nicht viel mehr als der Ausdruck der Hilf- und Ideenlosigkeit der Verantwortlichen. Doch leiden müssen darunter weder die Politiker, noch die eingesetzten Polizeibeamten, sondern einzig und alleine die Flüchtlinge, die nicht nur aus ihrem Land fliehen mussten, sondern jetzt auch noch „Vertriebene“ innerhalb Frankreichs sind. Viele der „geräumten“ Flüchtlinge werden nun in anderen Städten untergebracht, beispielsweise sind schon 30 Flüchtlinge in Straßburg angekommen. Doch auch das kann nur eine temporäre Notlösung sein.

Gleichzeitig kommt es an der griechisch-mazedonischen Grenze zu dramatischen Szenen. Flüchtlinge versuchen die geschlossene Grenze zu stürmen, doch ist auch das ein hilfloser Akt, denn die „Balkanroute“ ist ohnehin nicht mehr praktikabel – von Mazedonien aus führ momentan auch kein Weg mehr in die westlichen Länder der EU.

Die Unfähigkeit Europas, eine gemeinsame Lösung für diese Problematik zu finden, verwandelt Europa in ein Pulverfass. Denn der feindselige Umgang mit diesen Menschen, die nichts anderes versuchen, als ihr Leben zu retten und wieder ein Minimum an Boden unter den Füssen zu finden, erzeugt neuen Hass, mit dem sich die Gesellschaft auch wieder auseinandersetzen muss. Dass parallel zu den Hassreden und menschenverachtenden Maßnahmen in vielen europäischen Ländern auch viele Projekte zur Integration laufen, gerät immer mehr in den Hintergrund – die Zeichen stehen klar auf Sturm.

Umfragen haben gezeigt, dass sich die überwiegende Mehrheit der Menschen in Europa für eine europäische Lösung des Problems ausspricht – von der wir weiter entfernt sind als je zuvor. Und langsam muss sich jedes einzelne europäische Land die Frage stellen, wie es eigentlich um die eigene Solidarität bestellt ist. Es kann nicht sein, dass ganz Europa in Richtung Deutschland schaut, wo bereits mehr als eine Million Flüchtlinge in einer ungeheuren gesellschaftlichen Anstrengung aufgenommen wurden, ohne dass die Bereitschaft besteht, sich selbst an diesen Aktionen der Solidarität zu beteiligen.

Dass inzwischen in Calais mit Tränengas und Schlagstöcken gegen Flüchtlinge vorgegangen wird, nachdem man jahrelang versäumt hat, sich um eine Lösung für die dort ausharrenden Menschen zu kümmern, ist ein Armutszeugnis für das Land, das sich selbst als „Erfinder“ der Menschenrechte betrachtet. Doch die Gewalt, die in Calais, Mazedonien, Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowakei und vielen anderen Ländern gegenüber Flüchtlingen ausgeübt wird, kann nur zu neuen Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen führen. Was dann gleich auch wieder die Rechtfertigung für Maßnahmen wie die Schließung von Grenzen, Ausnahmezustände, Repressionen sein wird, mit denen sich Europa inzwischen täglich von den Werten entfernt, die uns jahrelang als die Errungenschaften der Europäischen Union präsentiert wurden.

Das Schlimmste daran ist, dass niemand mehr daran glaubt, dass eine europäische Lösung dieser Frage möglich ist. Überlassen wir gerade unseren Kontinent kampflos den Populisten, Rassisten, Neonazis, Ultranationalisten und anderen verstörten Zeitgenossen?

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