Kabul – das Fiasko

Die Evakuierungen werden von vielen Ländern für abgeschlossen erklärt und nach dem blutigen Anschlag herrscht Chaos in Kabul.

Man mag sich nicht vorstellen, was in Kabul passiert, wenn die letzten Amerikaner abgezogen sind. Foto: Photo by Lance Cpl. Nicholas Guevara / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Der Anschlag auf den Hamid-Karzai-Airport in Kabul ist der Auftakt für das, was nach dem Abzug der letzten amerikanischen Soldaten passieren wird. Und dieser Moment rückt näher – nach Angaben eines Sprechers des Pentagon müssen noch 150 Landsleute ausgeflogen werden und dann werden die letzten US-Soldaten abgezogen, die momentan noch versuchen, so etwas wie Ordnung zumindest innerhalb des Flughafen-Geländes aufrecht erhalten. Deutschland, wie viele andere Länder auch, hat gestern vorerst (?) seinen letzten Evakuierungsflug durchgeführt. Da aber noch zahlreiche afghanische Ortskräfte und ihre Familien nicht in Sicherheit gebracht wurden, hofft man in Berlin jetzt wohl, dass die Taliban auch nach Ablauf der Frist am 31. August noch afghanische Ortskräfte ausreisen lassen, doch das ist reichlich blauäugig. Nach den vielen Fehleinschätzungen der Lage in den letzten Wochen könnte dies die nächste sein. Schon heute steht fest, dass es nicht gelingen wird, alle Ortskräfte, die für ausländische Armeen gearbeitet haben, auszufliegen. Für die Betroffenen könnte dies das Todesurteil sein.

Tausende Afghanen, die in den letzten 20 Jahren für die vielen westlichen Streitkräfte gearbeitet haben, sind zusammen mit ihren Familien nicht ausgeflogen und in Sicherheit gebracht worden. Der blutige Selbstmord-Anschlag, zusammen mit der Ankündigung der Einstellung der Evakuierungs-Flüge durch Italien, Deutschland, Großbritannien, die Türkei, Kanada und andere, bringt diese afghanischen Ortskräfte in Lebensgefahr. Sobald die Amerikaner ihre letzten Leute herausgebracht haben werden, übernehmen die Taliban den Flughafen und man kann sich ausmalen, was dann dort passieren wird.

Die Bundesregierung, die viel zu lange gewartet hat, bis sie die Situation ernst nahm (was sie erst dann tat, als die Taliban bereits Kabul eingenommen hatten), gibt sich zuversichtlich, dass die Taliban ihr Wort halten und auch nach dem Stichtag 31. August ausreisewillige Afghanen ausreisen lassen werden. Wo die deutsche Politik ihr Vertrauen in das Wort der afghanischen Radikalfundamentalisten schöpft, ist rätselhaft. Abseits von Kabul, wo die Weltpresse nicht berichtet, herrschen bereits schlimme Zustände, wenn man den Berichten der UNO-Beobachter Glauben schenkt. Nicht nur, dass die Taliban inzwischen Frauen verbieten, auf die Straße oder zur Arbeit zu gehen („zu ihrer eigenen Sicherheit und um ihre Rechte zu gewährleisten“, wie ein Taliban-Sprecher erklärte), dazu häufen sich die Berichte von Verhaftungen ehemaliger Mitarbeiter der bisherigen afghanischen Verwaltung, von standrechtlichen Erschießungen und sogar von Massenhinrichtungen. In dieser Situation Ortskräfte und deren Familien schutzlos ausgeliefert zurückzulassen, ist eine unglaubliche Grausamkeit, nachdem man diesen Ortskräften zugesichert hatte, sie keinesfalls einer solchen Situation auszusetzen.

Dazu stellt sich die Frage, was mit Ortskräften der Bundeswehr in weit von Kabul entfernten Orten ist. Die Bundeswehr war hauptsächlich im Norden des Landes stationiert, dort, wo die Taliban ihre ersten militärischen Erfolge feierte. Da sie nach der Einnahme der ersten Städte sofort die Ringstraße kontrollieren konnten, die alle wichtigen Städte Afghanistans miteinander verbindet, muss man davon ausgehen, dass es viele ehemalige Mitarbeiter der Bundeswehr mit ihren Familien gar nicht bis Kabul geschafft haben. Was aus diesen Menschen wird oder welches Schicksal sie bereits ereilt hat, wird kaum zuverlässig in Erfahrung zu bringen sein.

Die Welt schaut besorgt nach Kabul. Für das, was dort in den kommenden Tagen passieren wird, tragen auch die USA und die europäischen Regierungen einen großen Teil der Verantwortung. Es gab ausreichend Zeit, diejenigen Afghanen und ihre Familien zu evakuieren, deren Leben nun massiv bedroht ist. «Kabul ist nicht Saigon», heißt es in den USA immer wieder. Das ist richtig. Kabul ist wesentlich schlimmer als Saigon, denn was jetzt in Kabul passiert und passieren wird, hätte verhindert werden können.

Die dramatische Entwicklung in Kabul ist ein Fiasko für die westliche Welt. Die westlichen Länder hinterlassen nach 20 Jahren ein Land, in dem sich Taliban, Al-Kaïda und der schon totgeglaubte Islamische Staat mit Warlords, Stammesfürsten und Vertretern früherer Regierungen um die Macht bekämpfen. Dabei betrachten alle diese Gruppen die afghanischen Ortskräfte als Verräter. Viele von ihnen haben wir trotz unserer Versprechen vor Ort im Stich gelassen. Diejenigen, die dieses Fiasko nicht verhindert haben, müssen dafür zur Verantwortung gezogen werden.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste