Der Europa-Realismus des Olaf Scholz

In seiner inhaltlich überraschenden Rede im Straßburger Europaparlament analysierte Bundeskanzler Scholz messerscharf die aktuelle Lage Europas. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird’s nicht so gerne gehört haben.

Die ellenlange Antwort von Scholz füllt die Audiospeicher der Nation... Foto: © Michael Magercord

(KL) – Zum gestrigen Europatag, dem 9. Mai, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz eine bemerkenswerte Rede im Europäischen Parlament in Straßburg. Es war eine dieser seltenen Reden, von denen man hinterher sagt, „wie gut, dass das mal jemand gesagt hat!“. Nach einem kurzen Einstieg in die Geschichte Europas als Gegenentwurf zu den Kriegen des letzten Jahrhunderts, schlug Scholz den Bogen zur Aktualität und nach dieser Rede versteht man besser, was der Bundeskanzler mit „Zeitenwende“ meint.

Ganz im Gegensatz zu Emmanuel Macron, der in China völlig unbegründete Ansprüche Europas auf den Status einer dritten „Supermacht“ angemeldet hatte, plädierte Scholz für eine Art neuer Bewertung der politischen Weltkarte und damit auch der Rolle Europas. „Wer nostalgisch dem Traum europäischer Weltmacht nachhängt, wer nationale Großmachtfantasien bedient, der steckt in der Vergangenheit“, sagte Scholz und wies darauf hin, dass die 450 Millionen Europäerinnen und Europäern lediglich 5 % der Weltbevölkerung darstellen. Eine Bemerkung, die eindeutig auf eben diese Fantasien des französischen Präsidenten abzielte. Scholz’ Position erfordert nicht nur ein Umdenken auf vielen Ebenen, sondern auch tiefgehende Reformen der Europäischen Union, die sich künftig als Partner der Weltgemeinschaft, im Idealfall auf gleicher Augenhöhe, verstehen muss, will sie nicht baden gehen.

Olaf Scholz hat in seiner Rede tatsächlich die „Zeitenwende“ erläutert. - Einerseits hob er die europäische Solidarität mit der Ukraine hervor, doch andererseits forderte er ein neues, realistisch denkendes und sich endgültig von der Arroganz der früheren Kolonialmächte verabschiedendes Europa. Mehr Integration, gutes Management, mehr europäische Solidarität. Eine europäische Vision, die man in der Ausarbeitung, beispielsweise bei den von Scholz geforderten Freihandelsabkommen, durchaus diskutieren kann, was aber nichts daran ändert, dass der Ruf von Olaf Scholz nach mehr „europäischem Realismus“, statt großspuriger Großmacht-Fantasien wichtig und richtig ist. Denn die Zukunft Europas kann man nicht mit eitler Schaumschlägerei gestalten, sondern man muss einen realistischen Blick auf Europa haben, um an den richtigen Stellschrauben drehen zu können.

„Die Welt des 21. Jahrhunderts“, sagte Olaf Scholz, „wird multipolar sein.“ Diese Analyse macht Mut, dass Europa nicht an seinem Gefühl der Überlegenheit scheitert, sondern vielleicht doch noch die Kurve kriegt. Wenn die Rede des Bundeskanzlers gestern in Straßburg zu einer Art Road Map für dringend benötigte Reformen der europäischen Institutionen sein sollte, dann sollte man sich dringend auf den Weg machen. Dieser Mann, und das mag manchen überraschen, hat eine echte europäische Vision, die ganz anders aussieht als das, was man zuletzt von Scholz Koalitionspartnern und vor allem, vom franzöischen Präsidenten Macron gehört hat. Dessen Besuch in Berlin Anfang Juni kündigt sich schwierig an, denn Gemeinsamkeiten zwischen Paris und Berlin gibt es momentan nicht viele. Dafür aber ein grundlegend unterschiedliches Verständnis der Lage in der Welt.

Hören Sie sich diese Rede von Olaf Scholz ruhig an. Es lohnt sich. Alleine schon für Scholz letzten Satz: „Die Vergangenheit wird nicht über die Zukunft triumphieren, und unsere Zukunft ist Europa“. Dann krempelt die Ärmel hoch und gestaltet Europa um, so lange das noch geht!

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