Der „Literarische Adventskalender“ (4)

Autor Stefan Böhm und Eurojournalist(e) präsentieren: „Straßburger Glaubensbekenntnis - Kommissar Sturnis dritter Fall“. Heute: Kapitel 4 – „Das Äquinoktium“

Ein schlafender Hund im Strassburger Münster... sollte man nicht wecken... Foto: Stefan Böhm / CC-BY-SA 4.0int

Kapitel 4 – Das Äquinoktium

Sturni überquerte die Passerelle de l’Abreuvoir – das Eselsbrückel – über die Ill in Richtung Münster. Die Drahtgitter am Geländer der kleinen Fußgängerbrücke, seinem Lieblingsübergang auf die Grande Ill, waren übersät mit kleinen Vorhängeschlössern, die verliebte Paare dort angebracht hatten.

Zwei davon waren von ihm. Das erste hatte er mit Caroline, seiner ersten Frau, dort in glücklichen Tagen angebracht, das zweite mit Margaux. Beide romantischen Augenblicke kamen ihm gerade vor wie aus einer fernen Vergangenheit, und dabei war zumindest das mit Margaux am Geländer befestigte Schloss noch gar nicht so alt …

Wer sich diesen eigenartigen Brauch wohl hatte einfallen lassen, sinnierte er, als er beim Überqueren der kleinen Passerelle Ausschau hielt nach seinen beiden Schlössern, die jedes Mal in der Hoffnung dort angebracht worden waren, das Glück des flüchtigen Augenblicks ein Leben lang festhalten zu können. Beim ersten Mal hatte es nicht geklappt, doch Sturni war ein Optimist. Mit Margaux würde es bestimmt besser funktionieren, auch wenn es im Moment etwas schwierig mit ihr war. Schließlich war sie hochschwanger, da musste er eben ein wenig Rücksicht auf sie nehmen …

Schon vor dem Münster gab es kaum noch ein Durchkommen. Sturni musste seinen Polizeiausweis zücken, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Es hatte sich in Windeseile herumgesprochen, dass das grüne Jesus-Leuchten im Münster heute unter anderen Vorzeichen stattfinden würde.

Als er endlich, kurz vor zwölf Uhr – also genau zum richtigen Zeitpunkt – an der Kanzel ankam, beschien das inzwischen weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannte grüne Licht gerade ein schwarzes Loch, just an der Stelle, wo sich eigentlich die Jesusfigur befinden sollte. Der mystische Moment, auf den so viele Straßburger und Touristen gewartet hatten, fiel aus.

Bernard Isinger – wie immer in solchen Momenten aufgeregt und voller Tatendrang – wartete an der Kanzel auf ihn. Neben ihm standen zwei Herren, gekleidet in sakrale Gewänder. Inspektor Isinger hatte den Tatort absperren lassen und einige Uniformierte sorgten dafür, dass die schaulustige Menge einen gebührenden Abstand zur Kanzel hielt, die den dritten Nordpfeiler des Langhauses umgab.

Irgendjemand musste die berühmte Figur bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit einem schweren Gegenstand, zum Beispiel einem Hammer, abgeschlagen haben. Zum Glück hatten die sich daneben befindenden Figuren der Heiligen Jungfrau und des Heiligen Johannes nichts abbekommen, man hatte es wohl nur auf den Jesus abgesehen. Selbst die beiden Totenköpfe – was auch immer sie dort zu suchen hatten –, die unterhalb des gekreuzigten Jesus angebracht waren, schienen noch intakt zu sein.

Anstatt der Figur sah man nun einen Hohlraum, der in die Kanzel hineinreichte. Die zerbrochenen Teile lagen unterhalb der Kanzel auf dem Boden zerstreut. Die Kanzel selbst war geschützt durch ein Metallgitter. Davor hatte Isinger noch eine größere Fläche mit einem Plastikband vor neugierigen Touristen gesichert.

Der Täter hatte die Jesusfigur mutwillig und gezielt zerstört, ausgerechnet in der Nacht vor dem großen Ereignis. Oder vielleicht gerade deshalb, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die filigrane Figur war in fünf große und viele kleine Teile zerborsten, die verstreut auf dem von Isinger gesperrten Bereich vor der Kanzel herumlagen.

„Wie ist die Lage, Bernard? Hast du schon etwas herausgefunden?“

Sturni versuchte, seinem engagierten Inspektor seinen Unmut nicht allzu offensichtlich zu zeigen. Schließlich war er sein Vorgesetzter und schätzte seinen jungen Inspektor sehr.

„Commissaire, ich darf Ihnen den Pfarrer des Münsters vorstellen, Herrn Alphonse Sipp. Und das ist Louis Stentz, der Küster. Er hat die beschädigte Figur heute Morgen gefunden. Die abscheuliche Tat muss also heute Nacht begangen worden sein. Bei seinem spätabendlichen Rundgang gestern war die Figur laut Herrn Stentz noch makellos. Er konnte sich noch genau daran erinnern, da er dabei immer einige Minuten andächtig davor verweilt und ein kurzes Gebet spricht.“

Die beiden Herren nickten ihm zu, wirkten erschüttert ob des herben Verlusts. Sturni wunderte sich, dass ein so junger und sympathisch wirkender Mann es bereits zum Pfarrer des Straßburger Münsters, immerhin eines der gewaltigsten und berühmtesten Kirchenbauten des Abendlandes, gebracht hatte.

Isinger sollte mal schön die Kirche im Dorf – oder besser das Münster in der Stadt – lassen. Abscheulich waren die Mordfälle, mit denen sie es tagtäglich zu tun hatten. Hier hatte jemand ein behauenes Stück weißen Sandstein, Alabaster, oder was auch immer das für ein Material war, beschädigt. Ein böser Scherz, könnte man sagen, mehr nicht. Die Figur würde sich restaurieren lassen und schon beim nächsten grünen Jesus-Leuchten in einem halben Jahr wäre sie wieder wie neu.

Im Gegensatz zu Isinger, der tiefreligiös und erzkatholisch war, hatte Sturni mit Religion im Allgemeinen und dem Katholizismus im Besonderen nicht viel am Hut. Vor einigen Jahren hatte er seine Mitgliedschaft in der Kirche offiziell beendet. Er wusste schon gar nicht mehr, welcher der vielen Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche der finale Auslöser für diese Entscheidung gewesen war.

Seine Mutter Clothilde war außer sich, als sie davon erfuhr, doch war Sturni es leid, immer nach ihrer Pfeife tanzen zu müssen. Er wollte seinen eigenen Weg gehen, endgültig. Außerdem handelte es sich um eine im höchsten Maße private Entscheidung, die jeder mit sich selbst ausmachen musste. Clothilde hatte ihm da nicht reinzureden. Das Gleiche galt für die Wahl seiner Angetrauten, aber da fehlte seiner Mutter jegliches Feingefühl …

Auf Clothildes massiven Druck hin hatte er seinen Sohn Christian noch taufen lassen, kurz darauf für sich selbst aber die Konsequenzen gezogen. Bei seinem zweiten Kind wollte er auf eine Taufe verzichten, aber diese Frage war mit Margaux noch alles andere als ausgestanden. Mit einigen der zehn Gebote nahm sie es selbst nicht so genau. Niemals wäre sie aber auf die Idee gekommen, aus der Kirche auszutreten. Sie war eben eine typische Elsässerin.

Plötzlich wurde ihm bewusst, wie lächerlich er aussehen musste vor den beiden Geistlichen und den sie umringenden Kirchenbesuchern und Touristen, denen hoffentlich nicht klar war, dass er der höchstrangige Vertreter des französischen Staates vor Ort war. In der Hand hielt er immer noch Orianes pinkfarbene Etepetete-Köfferchen …

Er war in seinem Freizeitlook in die Kathedrale gestürmt, mit bunten Shorts und weitem Hemd mit geöffneten Knöpfen bis zum Brustansatz, sah aus wie ein deutscher Tourist im Hochsommer, der respektlos mit kurzen Shorts und Badelatschen ein Gotteshaus betrat. Es war ihm peinlich. Verlegen knöpfte er sein Hemd bis zum Kragen zu. Als ob das noch einen Unterschied machte …

Mit so einem Massenauflauf hatte er nicht gerechnet. Etwas verlegen schüttelte er den beiden Herren förmlich die Hand.

„Antoine Sturni, ich bin der für den Fall zuständige Commissaire. Ich schlage vor, wir rufen erst einmal die Spurensicherung. Die sollen die Bruchstücke aufsammeln und untersuchen. Vielleicht bekommen wir so Anhaltspunkte auf Tatzeitpunkt, Tatwaffe und Täter.“

Sturni hatte keine Ahnung, wie man für gewöhnlich bei Sachbeschädigungen vorzugehen hatte, schon gar nicht, wenn es sich um einen wertvollen Sakralgegenstand handelte. Seit fast zwei Jahrzehnten befanden sich an seinen Tatorten gewaltsam zu Tode gekommene Mordopfer, und da gehörte es nun mal zu den ersten Schritten, die Spurensicherung zu rufen. Was bei einer zerstückelten Leiche richtig war, konnte bei einer zerborstenen Jesusfigur nicht falsch sein …

Isinger zückte sein Handy und suchte nach der Nummer des neuen Kollegen von der Spurensicherung, als sie von einem lauten Ruf aus dem Off unterbrochen wurden.

„Hier fasst niemand etwas an! Der Jesus gehört allein dem Herrn, vertreten durch die Diözese Straßburg, also mich, zumindest in weltlichen Angelegenheiten …“

Aus dem Hintergrund hatte sich ein weiterer Herr in geistlichem Gewand genähert. Die beiden anderen wichen ehrfurchtsvoll zurück, als er sich zu der kleinen Gruppe aus Isinger, Sturni und den schon anwesenden Vertretern der Kirche gesellte. Er schien demnach in der Hierarchie über den beiden zu stehen. Sturni beeindruckte das nicht. Er drückte Isinger Orianes Schickimicki-Köfferchen in die Hand und begrüßte den unfreundlichen Herrn mit einem kräftigen Händedruck.

„Antoine Sturni, ich bin der diensthabende Commissaire und für die Ermittlungen in dem Fall zuständig.“

Der ergraute Würdenträger musste die Sechzig überschritten haben. Er trug eine Soutane, ein schwarzes, maßgeschneidert wirkendes Gewand, das um den Hals zu einer um wenige Zentimeter breiten Krause verlängert war. Unter der Halskrause trug er einen blütenweißen Priesterkragen. Der Farbkontrast stach Sturni sofort ins Auge. Schwarz und Weiß, Gut und Böse, das Fundament dieser Religion, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Mann strahlte eine große Ruhe und Würde aus, schien sich seines Status in der Kirche sehr bewusst zu sein. Für sein Alter wirkte er noch extrem drahtig und fit, kein Bauchansatz, kein Gramm Fett war an diesem asketisch wirkenden Mann.

„Mein Name ist Jean-Michel Bott. Ich bin der Generalvikar der Diözese Straßburg. Bei der zerstörten Figur handelt es sich nicht um irgendeinen Gegenstand, sondern um ein einzigartiges Kunstwerk. Unter vielen Kunsthistorikern gilt es als die schönste Skulptur der Spätgotik. Sie muss unbedingt professionell von unseren Experten restauriert werden. Das hat absolute Priorität! Ich habe daher einen Restaurator gerufen, der sich der Angelegenheit annehmen wird. Er müsste gleich hier sein. Im Übrigen befinden Sie sich hier in einem Gotteshaus und ich bitte Sie, sich demgemäß zu verhalten und vielleicht auch – zumindest bei Ihrem nächsten Besuch – angemessen zu kleiden“, sagte er, mit einem abschätzigen Blick auf Sturnis knallbunte Shorts. Die überhebliche Art des Generalvikars machte Sturni aggressiv.

„Gotteshäuser sind in Frankreich nach meiner Kenntnis Eigentum des französischen Staates, dessen Vertreter ich bin. Da hier offensichtlich eine Straftat an einem, wie Sie selbst sagen, wertvollen Kunstgegenstand begangen wurde, entscheide ich, wie vorgegangen wird. Niemand rührt hier etwas an, bevor nicht die Spurensicherung vor Ort ist. Sie müsste gleich da sein.“

Sturni kratzte sich verlegen am noch ungewaschenen Kopf. Wo war er da nur wieder reingeraten? Während Isinger mit dem neuen Kollegen, einem gewissen Julien Josmeyer, den Sturni noch nicht persönlich kennengelernt hatte, telefonierte, rieb er aufgeregt an einer kleinen Figur, die in die Treppenstufen zur Kanzel hinauf eingearbeitet war. Die Skulptur stellte einen wohl noch jungen Hund dar, der die Pfoten ausstreckte und schlief, während seine großen Schlappohren über seine Pfoten hingen. Schon die Künstler im ausgehenden Mittelalter schienen eine blühende Fantasie und viel Sinn für Humor gehabt zu haben. Was hatten Totenköpfe und ein Welpe mit Schlappohren auf einer Kanzel zu suchen?

„Isinger, wir untersuchen gerade die Beschädigung eines wertvollen Sakralgegenstandes, haben den Tatort weiträumig absperren lassen, warten auf die Spurensicherung und streiten uns mit dem Klerus darüber, wer im Straßburger Münster das Sagen hat – und du hast nichts Besseres zu tun, als eine kleine Hundefigur zu streicheln, die Teil des Corpus Delicti ist? Hat dir deine Frau heute Morgen etwas in den café gemischt? Gehts noch?“

„Tut mir leid, Chef. Wir haben uns kürzlich einen jungen Hund zugelegt und der arme leidet an Koliken, seitdem er bei uns ist. Die kleine Hundefigur bringt den Hunden und ihren Haltern Glück, wenn man darüber streichelt. Das ist doch in ganz Straßburg bekannt. Sie wurde seinerzeit vom Baumeister der Kanzel angebracht, als Anspielung auf die Hundenarretei von Johann Geiler, dem bedeutendsten deutschsprachigen Prediger des ausgehenden Mittelalters, für den die Kanzel damals errichtet wurde.“

Sturni warf einen eingehenden Blick auf den Welpen. Der Stein war schon ganz speckig, so intensiv war er von glücksuchenden „Gläubigen“ bearbeitet worden. Da hatte Sturni wohl mal wieder verpasst, was in ganz Straßburg allgemein bekannt war … Er fragte sich, ob das ein katholischer oder doch eher ein heidnischer Ritus war, sagte aber nichts dazu und empfahl seinem Inspektor stattdessen einen geeigneten Diätplan für seinen Hund.

***

„Wattwiller!“

Sturni war irritiert … Wer war das nun schon wieder?

„Ja, was will er?“

„Nein, Claude Wattwiller. Ich bin der Restaurator und würde gerne die zerstörte Figur fachmännisch bergen und in unseren Räumlichkeiten restaurieren.“

Etwa zeitgleich trafen der neue Leiter der Spurensicherung und der vom Generalvikar hinzugezogene Restaurator am Tatort ein.

Während der Wartezeit hatte Isinger ihn noch ins Gebet genommen, dass es nicht ratsam sei, sich mit dem Generalvikar anzulegen. Er sei nach dem Erzbischof die Nummer zwei in der Diözese Straßburg, quasi dessen Verwalter in weltlichen Angelegenheiten. Der Draht vom Erzbischof zum Präfekten sei kurz und direkt, weshalb nach einer diplomatischen Lösung gesucht werden müsse, bei der die Interessen der Kirche angemessen berücksichtigt würden. Ansonsten müssten sie mit mächtig Ärger rechnen.

Bouget … der Präfekt … zu oft war Sturni mit ihnen angeeckt. Er nahm sich fest vor, den Rat seines Inspektors zu beherzigen und nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Wegen einer belanglosen Sachbeschädigung wollte er es sich nicht endgültig mit ihnen verscherzen. Nichtsdestoweniger hatte er hier eine Straftat zu untersuchen. Dazu war er von Amts wegen verpflichtet. Klein beigeben würde er also nicht.

Sturni besann sich, dass er ja gerade dem hageren, großgewachsenen Restaurator gegenüberstand, der von ihm erwartete, die Teile des Jesus einsammeln und restaurieren zu dürfen. Wieso fiel es ihm derzeit nur so schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren? Ständig ertappte er sich dabei, dass er mit seinen Gedanken abschweifte.

Claude Watt-will-er? Wattwiller war ein Dorf im südlichen Elsass, an den Hängen der Vogesen, in dem ein gleichnamiges Mineralwasser hergestellt wurde. Außerdem gab es in Straßburg einen Place de Wattwiller im Stadtteil Neudorf, an der Grenze zu Deutschland …, aber das war doch kein Name!

„Ah, so ist das … Antoine Sturni, guten Tag. Ich kann Ihnen versichern, dass wir nichts unternehmen werden, was Ihre wertvolle Figur gefährdet. Außerdem ist sie ja schon kaputt … Ähm, Sie können sie natürlich restaurieren, sobald wir mit unseren Untersuchungen fertig sind.“

Nun war es Claude Wattwiller, der ihm nicht mehr zuhörte. Er war also nicht der Einzige, der derzeit etwas zerstreut war, ein Glück. Wie gebannt starrte Wattwiller auf das schwarze Loch, wo sich noch bis vor kurzem die Jesusfigur befunden hatte.

Zum Glück gesellte sich nun auch noch Julien Josmeyer zu ihnen, zwischen Staat und Klerus herrschte also wieder Gleichstand. Josmeyer, Wattwiller … Das wurde ja immer besser! Konnte die junge Generation keine anständigen elsässischen Nachnamen mehr haben, wie Schmidiger, Straumann, oder eben Sturni …

Nachdem er den neuen Kollegen gebührend – bei seiner Arbeit war er in besonderem Maße auf die Spurensicherung angewiesen – begrüßt hatte, wandte er sich an Claude Wattwiller, der mit heruntergeklappter Kinnlade auf das schwarze Loch in der Kanzel starrte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut? Ich habe Ihnen doch versichert, dass Sie Ihre Figur werden restaurieren können. Wir werden für alles eine Lösung finden. Keine Sorge!“

Beifall heischend schielte Sturni zum Generalvikar, dessen Miene sich bei der Aussage etwas aufhellte, doch noch immer starrte der Restaurator wie gebannt auf die Kanzel.

„Das ist eine kunsthistorische Sensation! Darüber muss ich unbedingt einen Aufsatz veröffentlichen.“

Sturni drohte den Faden zu verlieren, war unkonzentriert. Wovon redete der Mann mit dem eigenartigen Namen? Die ganze Angelegenheit interessierte ihn nicht im Geringsten. Außerdem ging ihm die unerfreuliche Konversation mit Margaux und die anstehende Wohnungsbesichtigung mit Oriane im Kopf herum. Es musste schnell eine Lösung für Oriane gefunden werden, noch vor seiner Hochzeit und der Geburt des Kindes.

„Watt-will-er? Äh, Monsieur Wattwiller, könnten Sie uns bitte ins Bild setzen, wovon Sie gerade reden? Ansonsten würde mein Kollege von der Spurensicherung jetzt die Teile der Figur einsammeln und untersuchen.“

„Pardon, natürlich. Wie Sie bestimmt wissen, ist dies keine gewöhnliche Kanzel.“

Das wusste Sturni natürlich nicht …

„Erbaut wurde sie von einem gewissen Hans Hammer, dem Baumeister des Münsters, zwischen 1484 und 1486, für den berühmten Prediger Johann Geiler von Kaysersberg, einem Vordenker der Reformation.“

Ja, ja, der Hund, Johann Geiler, kannte er alles schon … Vordenker der Reformation, okay, seinetwegen …

„Aha!“

Sturni hatte ja gute Vorsätze, sich bei Gelegenheit mal genauer mit der Stadtgeschichte zu befassen, aber das war ihm nun doch zu detailliert. Claude Wattwiller hatte keinen Sinn für des Kommissars Desinteresse und fuhr begeistert fort.

„Die Kanzel hat eine bewegte Geschichte hinter sich.“

Klar, sie war ja auch schon steinalt.

„Während der Französischen Revolution wurde sie arg in Mitleidenschaft gezogen und sogar abgebaut. Auch die berühmte Jesusfigur hatte etwas abbekommen und musste restauriert werden.“

Dann war das also nichts Neues. Das Replikat wurde eben wieder zusammengesetzt oder repliziert. Alles halb so wild. Seinetwegen durfte Wattwiller nun zum Punkt kommen.

„Über die Kanzel und die Jesusfigur wurde schon viel publiziert. In aller Bescheidenheit habe auch ich mir mit einigen Artikeln in angesehenen Fachzeitschriften einen Namen zu diesem einzigartigen Kunstwerk gemacht.“

Ja, ja, schon gut. Sturni schaute auf die Uhr und dann, etwas betreten, auf seine knallbunten Shorts. So viel Zeit hätte sein müssen, wenigstens eine Jeans hätte er sich anziehen sollen. Er fühlte sich zunehmend unwohl.

„Nicht bekannt ist allerdings, dass sich in ihr und dahinter ein rechteckiger Hohlraum befindet, ganz so, als habe man einen kleinen Tresor eingebaut. Wurde der Hohlraum schon im Spätmittelalter, beim Bau der Kanzel, eingebaut und versiegelt? Oder vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Französischen Revolution? Wurde in diesem Hohlraum etwas aufbewahrt, ein Schatz, eine wertvolle Reliquie gar? Nichts davon ist bekannt. Ich kenne das Münster und diese Kanzel wie meine Westentasche. Wenn es irgendwo in den mehr als fünfhundertjährigen Beschreibungen zu dieser Kanzel eine Information zu diesem Hohlraum gäbe, dann wüsste ich es. Offensichtlich gibt es jemanden, der mehr weiß als wir und uns dieses Geheimnis nun offenbart, dessen Inhalt aber vielleicht kurz zuvor entrissen hat.“

„Ja, gut, also …“

Sturni musste sich erst mal sammeln. Das mochte ja alles ganz furchtbar aufregend sein … für einen Kunsthistoriker. Ihn interessierte es nicht. Weshalb mussten Küchler und Tignel ausgerechnet an diesem Wochenende krank sein? Sobald sie wieder im Dienst waren, würde er ihnen den Vorgang auf den Tisch knallen und dann schnell vergessen.

„Josmeyer, Sie untersuchen jetzt den Tatort!“

Er warf einen Blick auf den Generalvikar, dessen Stirn sich bei der Ansage in Falten legte. Es schien ihm ganz und gar nicht zu passen, dass staatliche Vertreter die Kanzel genauer unter die Lupe nehmen wollten. Am liebsten hätte er sie aus „seiner“ Kirche verwiesen, die aber dummerweise dem französischen Staat gehörte …

„Natürlich im Beisein von Herrn Watt … will … er …, ich meine Wattwiller. Die Spuren werden so gesichert, dass der wertvollen Figur kein Schaden zugefügt wird. Ich meine natürlich kein zusätzlicher Schaden, sie ist ja bereits in zig Teile zerbrochen …“

Nun musste Sturni doch schmunzeln, über seinen, wie er fand, gelungenen Witz.

„Josmeyer, Sie untersuchen die Teile auf Fingerabdrücke, wieder unter fachkundiger Beteiligung von Herrn Wattwiller. Wenn Sie fertig sind, gehen die Teile an die Restauratoren des Münsters und können wieder zusammengesetzt werden.“

Sturni blickte fragend in die Runde. Zustimmendes Nicken allenthalben, ein guter Kompromiss zwischen Klerus und Staat schien gefunden zu sein. Nur der Generalvikar schien noch nicht überzeugt, doch hatte Kommissar Sturni hinreichend klargemacht, dass er hier das Sagen hatte, knallbunte Shorts hin oder her. Zumindest gab es von der ergrauten Eminenz keine weiteren Widerworte …

„Prima, dann hätten wir die ganze Angelegenheit ja geklärt. Sie entschuldigen mich, ich habe noch etwas zu erledigen. Den Rest übernimmt mein Inspektor, Bernard Isinger.“

Sturni nahm Isinger Orianes Köfferchen wieder ab und nickte zur Verabschiedung in die Runde. Er war froh, dass er die Sache gütlich gelöst und nun hoffentlich hinter sich hatte. Nächste Woche wären Küchler oder Tignel wieder im Büro und könnten sich mit dem alten Krempel rumschlagen. Er jedenfalls hatte Wichtigeres zu tun, Oriane Jacquesson musste umgehend und auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben verschwinden. Das hatte oberste Priorität!

Fortsetzung folgt…

Stefan Böhm

Straßburger Glaubensbekenntnis
Kommissar Sturnis dritter Fall

Originalausgabe
1. Auflage
© 2020 Stefan Böhm
Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0
Umschlagsgestaltung und Satz:
Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)
Lektorat: Martin Villinger
Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck und Bindung:
Sowa Sp. z o.o.
ul. Raszyńska 13
05-500 Piaseczno
Polen

Alle Rechte vorbehalten. Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

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