Die Franzosen verzweifeln an ihrer Verfassung

Wieder nichts. Auch zum zweiten Mal weigerte sich der Verfassungsrat, die höchste französische Instanz, eine Volksabstimmung über Macrons Rentenreform zuzulassen.

In den samtenen Hallen des mächtigen Verfassungsrats will man keine Volksabstimmungen. Foto: Faqscl / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – So richtig hatte niemand damit gerechnet, dass der französische Verfassungsrat, die allerhöchste Instanz des Landes, eine Volksabstimmung über die Macron’sche Rentenreform, dieses demokratische Desaster, zulassen würde. Damit lässt der Verfassungsrat, das „Gremium der Weisen“, eine vom Pariser Machtapparat eingesetzt Institution (die neun Mitglieder werden jeweils drei vom Präsidenten, dem Präsidenten des Senats und dem Präsidenten der Nationalversammlung freihändig bestimmt) auch die zweite Chance liegen, Frankreich wieder zu befrieden. Bereits am 14. April wurde ein solcher Antrag vom Verfassungsrat abgelehnt, doch dieses Mal ist die Begründung so haarsträubend, dass man versteht, dass immer weniger Franzosen an ihren Staat glauben.

Denn letztlich geht es in der erneuten Ablehnung einer Volksabstimmung zu dieser von einer riesigen Mehrheit der französischen Arbeitnehmer abgelehnten Rentenreform um zwei Dinge. Zum einen befand der Verfassungsrat, dass zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags, das Renteneintrittsalter bei 62 Jahren lag. Daher konnte gar kein Antrag gestellt werden, da es ja gar kein Gesetz zum Renteneintrittsalter von 64 Jahren gab, gegen das sich eine Volksabstimmung hätte richten können. Formal richtig, denn erst aufgrund dieser Entscheidung des Verfassungsrats konnte Präsident Macron das Gesetz einen Tag später, beziehungsweise noch in der Nacht, in Kraft setzen. Ab da galt dann das Renteneintrittsalter von 64 Jahren. Dazu befand der Verfassungsrat, dass sich die Volksabstimmung nicht gleichzeitig um das Renteneintrittsalter und die Finanzierung des Rentensystems beziehen dürfte. Das steht zwar nirgends so, aber letztlich muss dieser Verfassungsrat auch gar nichts erklären, denn Einspruch gegen seine Entscheidungen kann man ohnehin nicht einlegen. Jetzt könnte man pfiffig meinen, dass man dann ja einfach einen neuen Antrag auf eine Volksabstimmung stellen könnte, jetzt, wo das Gesetz von Macron in Kraft gesetzt wurde.

Aber, wie die Franzosen gerade merken, gibt es in der Verfassung der V. Republik für so ziemlich jede denkbare Situation einen Paragraphen, mit dem der jeweilige Machthaber tun und lassen kann, was er will. Denn, und das wussten die pfiffigen „Weisen“ natürlich, verbietet die Verfassung, dass eine Volksabstimmung über Gesetze durchgeführt werden kann, die noch kein Jahr in Kraft sind, was bei der Rentenreform ja der Fall ist. Immer mehr Franzosen beschleicht das ungute Gefühl, anhand einer ganzen Reihe von Verfassungstricks ganz legal von ihrem Staat angeschmiert worden zu sein.

Der Senat durfte zu dieser Rentenreform aufgrund des Verfassungsparagraphen 44.3 nur eine „blockierte Abstimmung“ durchführen, was bedeutet, dass die Senatoren über den Gesetzesentwurf nur so abstimmen dürfen, wie er ihnen unterbreitet worden war und nicht etwa selbst Änderungen diskutieren und abstimmen durften. Im Parlament, der Nationalversammlung durften die gewählten Volksvertreter überhaupt nicht abstimmen, Paragraph 49.3 machte es möglich. Und die Verfassung verbietet nun auch, dass ein neuer Antrag auf eine Volksabstimmung gestellt werden darf, da das Gesetz zur Rentenreform erst ein paar Wochen, nicht aber ein Jahr in Kraft ist.

Mit Demokratie hat das alles nicht mehr viel zu tun, und die Franzosen lernen gerade, dass „legal“ nicht „legitim“ und auch nicht „demokratisch“ bedeutet und dass sie zwischen den Paragraphen dieser Verfassung gerade eine zwei Jahre längere Lebensarbeitszeit aufgebrummt bekommen haben und auch die monatelangen, friedlichen Proteste von Millionen Franzosen an keiner Stelle des Pariser Machtapparats gehört wurden. Erst jetzt, wo die Proteste bedauerlicherweise immer aggressiver und brutaler werden, geruht man, diese wahrzunehmen und natürlich aufs Schärfste zu verurteilen.

Die allerallerallerletzte Hoffnung, dass diese Rentenreform noch verhindert werden kann, ist ein neuer Gesetzentwurf der kleinen Mitte-Rechts-Fraktion „LIOT“, der vorsieht, dass niemand später als mit 62 Jahren in Rente gehen darf. Die Gewerkschaften und Oppositionsparteien wollen massiv für diesen Gesetzentwurf mobilisieren. So ganz vorbei ist es also immer noch nicht. Aber man könnte fast wetten, dass irgendjemand in Paris noch einen Paragraphen ausgräbt, mit dem auch die Abstimmung über diesen neuen Gesetzentwurf unterbunden wird.

Doch in der Zwischenzeit werden sich die Proteste weiter auf die Straße verlagern, es wird vermehrt zu Streiks kommen, zu dezentralen und gewalttätigen Aktionen. Macron, seine Regierung und der Verfassungsrat haben sich also für eine langfristige Auseinandersetzung mit der eigenen Bevölkerung entschieden. Seit 5 Jahren erlebt Frankreich durchgehend Unruhen und die hat ein einziger Mann zu verantworten. Und der macht sein 5 Jahren vieles, was legal ist. Dass sein Handeln nicht legitim ist, kümmert ihn nicht. Es passiert genau das, was nicht hätte passieren dürfen. Macron muss die nächsten vier Jahre gegen die Franzosen regieren, die ihm bereits gekündigt haben. Und das sind keine guten Nachrichten für Frankreich.

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