Die Nichtwähler holen die absolute Mehrheit

Die Nichtwähler stellten im ersten Wahlgang der wichtigen Regional- und Departementswahlen am Sonntag in Frankreich mit rund 68 % die mit Abstand stärkste Kraft. Eine Ohrfeige für die französische Politik.

Gähnende Leere gestern vor den Wahllokalen... Foto: Eurojournalist(e)

(KL) – Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin. Das war ungefähr die Stimmung am gestrigen Sonntag in Frankreich, wo die Nichtwähler mit rund 68 % einen traurigen Rekord aufstellten. Da nützen auch die üblichen Erklärungen nichts, wie „es war aber sehr heiß / regnerisch / Vatertag / Angst vor dem Coronavirus“ – denn diese Angst hatte die Regierung selbst als Argument außer Kraft gesetzt, als sie rechtzeitig zum Wahltermin die nächtliche Ausgangssperre und das Tragen von Masken im Freien aufhob. Es sieht so aus, als seien die Franzosen mit der V. Republik endgültig durch – es wird Zeit für eine VI. Republik.

Das französische Wahlsystem mit zwei Wahlgängen und dem „The winner takes it all“-Format, das man auch in der angelsächsischen Welt kennt, steht zwischen den Franzosen und einem politischen Engagement. Denn dieses System sorgt dafür, dass bei jeder Wahl bist zu 49 % der abgegebenen Stimmen (und hier sprechen wir noch nicht von den Nichtwählern!) nicht in den Parlamenten repräsentiert werden. Das bedeutet, dass es für neue oder kleinere Parteien so gut wie unmöglich ist, den einen oder anderen Abgeordneten zu stellen. Mit Demokratie hat das nur sehr bedingt zu tun.

Dieser hohe Anteil der Nichtwähler hat mehrere Gründe. Einer dieser Gründe liegt im Geprotze des Pariser Machtapparats, der eher ans 19. Jahrhundert als an die Neuzeit erinnert. Für den letzten stellvertretenden Unterstaatssekretär wird ein protokollarischer Aufwand betrieben, der in anderen Ländern schlicht undenkbar wäre. Und natürlich entsprechend viel Geld kostet. Dazu kommt, dass Politik und Politiker in Frankreich allgemein als hoch korrupt angesehen werden. Das ist für die Ausnahmen, die es zweifelsfrei gibt; hart zu verdauen, doch kann nichts mehr diesen Eindruck in der Bevölkerung ändern. Links und Rechts versagen seit Jahrzehnten und der letzte Hoffnungsträger, der aktuelle Präsident Emmanuel Macron, der mit dem Versprechen einer „neuen politischen Welt“ angetreten war, hat die Franzosen schwer enttäuscht, indem er mit der „alten politischen Welt im Amateur-Modus“ eine Art „digitalen Totalitarismus“ eingeführt hat, mit dem er per Dekret (also ohne Zustimmung des Parlaments) zahlreiche Freiheitsrechte der Franzosen abgeschafft hat, angeblich, um die Sicherheit im Land zu steigern.

Schuld an dieser Backpfeife für die gesamte politische Kaste sind auch die Parteien. Interessant ist, dass kaum ein Kandidat und kaum eine Kandidatin den Mut hatte, im Namen und unter dem Zeichen ihrer jeweiligen Parteien anzutreten. Deren Image ist inzwischen derart im Keller, dass die Kandidaten lieber unter Phantasienamen antreten, als klar zu sagen, für welche Partei sie antreten. Man stelle sich vor, bei einer deutschen Landtagswahl würden die Kandidaten der CDU unter dem Namen „Für mehr Deutschland“ und diejenigen der SPD als „Deutschland wieder erwecken“ antreten und verschweigen, für welche Partei sie stehen. Die französischen Parteiapparate, verkrustet und nur durch ewig alte Seilschaften noch am Leben, haben abgewirtschaftet und das ist die Botschaft der % der Franzosen, die gestern besseres zu tun hatten als wählen zu gehen.

Obwohl dies alles nicht neu ist, weigern sich die französischen Parteien hartnäckig, die Schuld für diesen seit Jahren andauernden Trend bei sich selbst zu suchen. Dass sie dabei implodieren, scheinen sie genau so wenig zu merken wie beispielsweise die SPD in Deutschland. Das höchste der Gefühle an Selbstkritik ist in der französischen Politik die Aussage „wir haben eigentlich alles richtig gemacht, aber nicht sonderlich gut kommuniziert“.

Nach dem zweiten Wahlgang am nächsten Sonntag wird sich erneut die Frage der Legitimität der Gewählten stellen, die dann mit 10 oder 15 % der Wählerstimmen ihr Amt antreten können. Denn bei allem Jubel, der dann bei den „Gewinnern“ ausbrechen wird, bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass 85 bis 90 % der Wähler NICHT für sie gestimmt haben werden.

Morgen, wenn die Ergebnisse des ersten Wahlgangs vorliegen, lesen Sie auf Eurojournalist(e) eine Analyse dieses ersten Wahlgangs. Auch, wenn diese Analyse ebenso unerfreulich sein wird wie diejenige der Wahlbeteiligung. Frankreich geht unruhigen Zeiten entgegen…

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