Eine gute Idee?

140 Abgeordnete, Intellektuelle und Künstler fordern Präsident Macron in einem Appell auf, die Endfassung seiner Rentenreform per Volksabstimmung entscheiden zu lassen.

Das Gefühl vieler Franzosen ist es, dass ihre Regierung gegen sie regiert. Foto: Jeanne Menjoulet from Paris, France / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Der Aufruf erschien auf der Titelseite der ehrwürdigen „L’Humanité“, der 1902 vom Sozialisten Jean Jaurès gegründeten Tageszeitung, die dann von 1920 bis 1994 das Tageblatt der Kommunistischen Partei Frankreichs wurde. Und das war kein Zufall, denn dieser Aufruf, in dem Präsident Macron vorgeschlagen wird, die Endfassung seiner geplanten Rentenreform per Volksabstimmung entscheiden zu lassen, wird gleichermaßen von Politikern aller Parteien des linken Spektrums getragen – Sozialisten, Kommunisten, Grüne. Der Appell lohnt, genauer angeschaut zu werden.

Frankreich befindet sich seit fast anderthalb Jahren in einem sozialen Konflikt, der zu einer Art Dauerveranstaltung geworden ist. Waren es zuerst die „Gelbwesten“, die über ein Jahr lang relativ allgemein gegen die soziale Kälte in Frankreich protestierten, ist es seit Dezember eine schlecht geplante und noch schlechter kommunizierte Rentenreform, die zu Dauerprotesten und Streiks führt. Dabei sind die Gräben zwischen Regierung und Bevölkerung so tief geworden, dass es kaum noch eine Verständigung gibt. Der Vorschlag, die Endfassung der geplanten Rentenreform per Volksabstimmung entscheiden zu lassen, würde beide Seiten zu mehr Vernunft und Dialog zwingen. Denn die Strategie Macrons, soziale Konflikte auszusitzen und darauf zu bauen, dass ihnen irgendwann die Luft ausgeht, klappt schon seit November 2018 nicht mehr.

Dass es eine Rentenreform geben muss, das werden am Ende auch die französischen Gewerkschaften einsehen, denn die 42 in Frankreich bestehenden Rentensysteme stammen aus einer Zeit, in der die Menschen 10 Jahre kürzer lebten als heute. Dass hier eine Anpassung nötig ist, wie in allen anderen europäischen Ländern, ist eine Notwendigkeit. Nur – die Frage ist, wie diese Reform aussehen soll.

Was bisher seitens der Regierung kommuniziert wurde, ist mehr als dünn. Das Ziel soll sein, eine „universelle“ Rentenregelung zu finden, also die 42 verschiedenen Systeme mit all ihren Privilegien abzuschaffen. Das würde durchaus Sinn machen, doch würde eine solche Reform erfordern, dass die Menschen, neben dem sauren Apfel einer verlängerten Lebensarbeitszeit, nicht auch noch finanziell schlechter gestellt werden. Eine Angleichung nach oben wäre sicher mit allen Sozialpartnern verhandelbar, eine Angleichung nach unten, bei denen sich tatsächlich viele Rentner mit Einschnitten auseinandersetzen müssten, wird nicht durchgehen.

Dass nach den ersten heftigen Protesten, bei denen mehr als eine Million Franzosen auf die Straße gingen, einzelne Berufsgruppen wie die Polizei von den Wohltaten dieser geplanten Reform ausgenommen wurden, wurde als Hinweis darauf gewertet, dass ihre Auswirkungen so toll dann auch nicht sein können, wenn diejenigen Berufsstände, die tatsächlich von der Regierung zur Sicherung ihrer Macht benötigt werden, von dieser Reform ausgenommen werden sollen. Auch war es kein politisches Meisterstück, Teile der Reform im Dunstkreis der Versicherungslobbys ausarbeiten zu lassen und dann mit der Empfehlung an den Start zu gehen, die geringeren Renten durch den Abschluss privater Versicherungen auszugleichen. Da war sie wieder, die „alte Welt“…

Sollte das französische Volk das letzte Wort bei einer so wichtigen und weitreichenden Reform haben, wäre das nicht nur demokratisch, sondern würde auch die Regierung zwingen, eine klare und verständliche Reform auszuarbeiten, die jeder versteht und zu der sich jeder äußern kann. Bislang kommen selbst die Minister ins Stottern, wenn sie im Fernsehen die Grundzüge dieser Reform erläutern sollen. Umgekehrt könnten sich in diesem Fall auch die Gewerkschaften nicht dem Dialog entziehen und müssten ihre reine Protesthaltung gegen eine aktive Mitwirkung in der Ausarbeitung einer allgemein akzeptablen Reform tauschen. Und am Ende wüssten die Franzosen, wofür oder wogegen sie wirklich stimmen.Dies wäre auch eine Gelegenheit, Risse durch die Gesellschaft zu kitten, die Präsident Macron ohne Not durch sein häufig despektierliches Verhalten gegenüber fast allen Gesellschaftsschichten gerissen hat. Die Franzosen wollen keinen „Sonnenkönig“, der über sie herrscht, sondern einen Präsidenten, der ihre Vorstellungen von einer fairen und solidarischen Gesellschaft umsetzt. Die Bevölkerung an der Entscheidung über eine Rentenreform mitwirken zu lassen, an einer Reform, die den Lebensabend aller Franzosen nachhaltig beeinflussen wird, erscheint ein richtiges und demokratisches Vorgehen zu sein.

Diesen Vorschlag einfach abzubügeln, weil er aus dem linken Spektrum kommt, wäre ein Fehler. Denn dies ist der erste Vorschlag seit langem, der nicht darauf abzielt, die sozialen Konfrontationen weiter zu schüren, sondern im Gegenteil, der das Potential hat, einen nicht mehr stattfindenden Dialog zwischen Bevölkerung und Regierung wieder ins Laufen zu bringen.

Das Mandat von Emmanuel Macron dauert noch einmal zweieinhalb Jahre. Mit „Aussitzen“ wird der Präsident allerdings nicht bis zum Ende seines Mandats kommen – dazu sind die Spannungen einfach zu groß. Ob wohl über diesen Vorschlag ernsthaft diskutiert werden wird?

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