Euro-Anarchismus

Seit über zwei Wochen wird gerätselt, was den Ausschlag für das Brexit-Votum gegeben hat. Auf einer Pressekonferenz im Straßburger EU-Parlament hat Nigel Farage, der Wortführer der UKIP, darauf einen Hinweis gegeben. Wenn auch eher unfreiwillig.

Ein echter Euro-Anarchist oder der Totengräber Europas? Foto: Eurojournalist(e)

(Von Michael Magercord) – Ist er nicht genau, was wir immer wollten? Ein Politiker, der sich ganz und gar seinem Anliegen verschrieben hat, der nicht taktiert, sondern kompromisslos kämpft, wofür man ihn gewählt hat? Einer, der, wenn er sein großes Ziel erreicht hat, nicht plötzlich zu noch höheren Ämtern strebt?

Nigel Farage, der Brexit-Mann der ersten Stunde, ist am Ziel, hat mit dem Austritt Großbritanniens seinen „Unabhängigkeitstag“ erlebt, und legt nun alle Führungsämter in seiner „Unabhängigkeitspartei“ nieder. Keinen Wahlkampf wird er mehr bestreiten – wofür auch? Die Mission ist erfüllt und Schluss. Sagt er zumindest. Kritiker sagen, jetzt ginge es erst richtig los. Das ganze angerichtete Chaos müsse nun wieder in eine Art von Lot gebracht werden, politisch, diplomatisch, wirtschaftlich.

Kein Erdbeben ohne Nachbeben – Das aber ficht einen Nigel Farage nicht an: Das politische Erdbeben in der „Elite“ Englands ist für ihn Teil der Brexit-Mission; die Beziehungen zu den anderen europäischen Ländern werden sich schon einrenken, wenn man sich nach dem Schock und der Kränkung wieder an die gemeinsamen Interessen erinnert; und dass sich die wirtschaftlichen Akteure, ob deutsche Autobauer oder französische Weinbauern, auch unter den neuen Bedingungen ihren Weg zu Profiten bahnen werden, davon ist der „Geschäftsmann“ – so Nigel Farage über Nigel Farage – ohnedies überzeugt, und die Börsengewinne in London im Zuge des Brexits mögen ihn sogar bestätigen.

Wie aber geht es weiter für „the little, decent and ordinary people“, also die kleinen, anständigen und gewöhnlichen Leute, für die er diesen Kampf geführt habe und die nun den Sieg davon getragen hätten – die sollen die wahren Profiteure des Brexits sein? Das Fragezeichen hinter der Aussage ist bereits die Aussage, und es wurde mehr als einmal schon während des Wahlkampfes von berufenen Stellen hinter jede These der Brexit-Befürworter gestellt. Trotzdem haben vor allem eben diese kleinen, anständigen und gewöhnlichen Leute für den Brexit gestimmt und damit ein weiteres Fragezeichen ausgesandt: Warum bloß?

So recht vermag das niemand schlüssig sagen. Oft nicht einmal die Brexit-Wähler selbst. Ist es eine Art Neo-Nationalismus http://eurojournalist.eu/the-european-project-is-now-dying/  , der in ganz Europa grassiert und worin sich die Sehnsucht nach alter und neuer Stärke ausdrückt? Oder doch eher eine Art Rückzug  http://eurojournalist.eu/brave-brits/   in die kleinteilige Welt als Folge der Globalisierung, mit dem man sich auch eigene Schwäche eingesteht? Oder beides zugleich? Oder nichts davon? Vielleicht hat Nigel Farage am Mittwoch – etwas unfreiwillig – noch eine andere Erklärung für den Brexit geliefert: nämlich die pure Lust am Spektakel, zum Aufstand gegen zementierte Verhältnisse, an der Vernunftsverweigerung, kurz: zur Anarchie!

Kein Drama ohne Lügner – Für einen Lacher sorgte der Oberanarchist bei seiner Pressekonferenz in den Katakomben des Europaparlaments schon bei seinem Einzug. Er kam durch die linke Tür, wo doch alle anderen immer von rechts kommen. Die Fotografen waren aber beileibe nicht seine ersten Opfer. Sondern die Brexit-Wähler, die – so auch die erste Journalistenfrage – nämlich schamlos belogen wurden. Ja, es war ein Fehler, die offensichtliche Lüge über viel zu hohe Nettozahlungen Großbritanniens an die EU zu lancieren. Aber egal, im Prinzip stimmt’s und für Anarchisten heiligt nun mal das Spektakel jede Lüge.

„The drama in the theatre“ – das ist es, was nämlich der Noch-Parlamentarier Farage am meisten vermissen wird, wenn’s auch für ihn mit der EU vorbei ist, spätestens also 2019 am Ende dieser Wahlperiode. Platz 20 hat im Theater des Plenarsaals inne, in der ersten Reihe, direkt neben dem Kommissionspräsidenten, genau richtig für Schlacht der Rede, die Nigel Farage, man muss es zugeben, beherrscht wie kaum ein zweiter. Und dieser Schauspieler seiner selbst ist immer noch berauscht von sich: Nie hätte er gedacht, nur wenige Jahre nach dem Beginn seiner wahnsinnigen Mission als Hobbypolitiker, neben den Mächtigen Europas zu sitzen und ihnen nun sogar den Marsch geblasen zu haben.

Verspielt, selbtverliebt und anarchisch: Der Spaß an der Umwälzung um der Umwälzung willen mag auch viele Wähler erfasst zu haben. Endlich mal was los im Staate und der Staatengemeinschaft, und ja, nun muss sich auch endlich etwas ändern. Wenn man selbst als Kontinentaleuropäer ein wenig in sich hineinhorcht, kann man eine klammheimliche Freude darüber nicht ganz unterdrücken. Und hätten nur zwei oder drei Prozent der Wähler aus genau dieser Lust am „Drama“ für den Brexit gestimmt, hat dieses Gefühl das Votum entschieden.

Keine Politik ohne Politiker – Ob nun tatsächlich das dabei herauskommt, was die Wähler wollten? Wenn sie denn überhaupt was wollten? Das spielt nun keine Rolle mehr, ebenso wenig wie der Hobbypolitiker, der ihren anarchischen Gelüsten eine Stimme gegeben hat. Jetzt sind die anderen wieder dran, die Politiker der alten Schule: Die Taktierer, die Kompromissler, die, die immer nach noch Höherem streben. Sie sollen es nun wieder richten.

Den heimlichen Anarchisten aller europäischer Ländern mag das schließlich eine Lehre sein: Ja, einmal kurz den Laden durchzumischen, ist immer sehr verlockend und nicht einmal nur schlecht, im Gegenteil, aber der üblichen Politik und ihren Protagonisten wird man so letztlich doch nicht entkommen. Und das ist vermutlich sogar gut so – aller klammheimlichen Politikerverachtung zum Trotz.

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