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Der russische Oppositionelle Slava Rabinovich: „Sanktionen gegen 10.000 Familien sind der Schlüssel, um Putins Regime zu beenden“

Der bekannte russische Oppositionelle Slava Rabinovich (l.) im Video-Gesprâch mit Olivier Védrine. Foto: EuTalk / The Russian Monitor

(Gespräch: Olivier Védrine / Texte: Christophe Nonnenmacher / deutsche Fassung KL) – Während das Regime in Russland immer härter agiert, stellt sich die Frage nach der Wirkung der gegen Moskau ausgesprochenen Sanktionen. Inmitten von Uneinigkeit, Idealismus und einer bestimmten Form der Unkenntnis der russischen Gesellschaft weist die europäische Strategie zahlreiche Schwächen auf und stärkt somit indirekt das bestehende Machtgefüge, bedauert Slava Rabinovich, der als Star der politischen Analyse der demokratischen Opposition in Russland nahesteht.

Montag, 22. Februar 2021: Die europäischen Minister stimmen für ein neues Paket an Sanktionen gegen den russischen Staat. Zielscheibe sind bestimmte hohe Würdenträger. Offiziell wird vor dem EU-Gipfel am 25./26. März 2021 nichts verlauten, doch hört man immer wieder vier Namen: Igor Krasnov, Generalstaatsanwalt Russlands; Alexandre Kalachnikov, Chef des staatlichen Strafvollzugs; Alexandre Bastrykine, Chef des Untersuchungskomitees und Viktor Zolotov, Kommandant der russischen Nationalgarde. Alle vier waren an der Verhaftung von Alexej Nawalny beteiligt, als dieser im Januar aus Deutschland zurückkehrte. Den vier hohen Beamten droht die Einfrierung ihrer Guthaben bei europäischen Banken und ein Einreiseverbot in die Europäische Union.

Mehrere tausend Kilometer von Straßburg und Brüssel entfernt, empfängt uns in Moskau Slava Rabinovich, Star der politischen Analyse, der der demokratischen Opposition in Russland nahesteht. Natürlich findet das Treffen per Videokonferenz statt. 1966 in Sankt Petersburg zur Zeit der Sowjetunion geboren, geht Rabinovich mit 22 Jahren ins Exil nach New York, wo er einen MBA an der NYU Business School besteht, bevor er 1996 wieder zurückkehrt, als ihm der Mitbegründer des Investmentfonds Hermitage Capital Management Bill Browder, eine Karrierechance bietet. Zu diesem Zeitpunkt läuft eine Welle der Privatisierungen durch Russland, der „Jelzin-Effekt“, als sich der russische Präsident entgegen aller Erwartungen gegen eine als fatal eingeschätzte, konservative Opposition an der Macht halten konnte. Dass sich Jelzin an der Macht halten konnte, fand damals den uneingeschränkten Beifall der Amerikaner und Europäer. Russland beschritt damals weiter den Weg der Öffnung und der Finanzausrichtung. Zu diesem Zeitpunkt agiert Rabinovich relativ diskret und ist vor allem einem spezialisierten Publikum bekannt, das seine Beiträge auf dem TV-Kanal RBC Russian Business Channel verfolgt, bevor dieser Sender 2011 von Bloomberg Television übernommen wurde. Doch dann, mit einem einzigen Post auf Facebook, katapultiert ihn seine Analyse der westlichen Wirtschaftssanktionen nach der Annektierung der Krim ins Rampenlicht. Diese Analyse wurde mehr als 10.000 Mal geteilt und machte Rabinovich zum Starkommentator der russischen Wirtschaft für Bloomberg, Forbes, Radio Freedom oder auch Echo Moscow.

Das Interview führt Olivier Védrine von Kiew aus für EuTalk und The Russian Monitor. Slava Rabinovich steht der Wirksamkeit der Sanktionen ähnlich skeptisch gegenüber wie zuvor der Politologe Valery Solovei. Die Annektierung der Krim 2014, die Unterstützung Moskaus für den Krieg der Separatisten im Osten der Ukraine, der Angriff auf den Flug MH17 der Malaysian Airlines, die Verhaftung von und Mordanschläge auf Oppositionelle, das Ignorieren von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – es gibt mehr als genügend Gründe, sich Sorgen über das Handeln der russischen Regierung zu machen. Doch die Zurückhaltung und das unbedeutende Ausmaß der europäischen Maßnahmen wirft Fragen auf – während gleichzeitig am 31. Januar 2021 mehr als 300.000 russische Bürger friedlich ihren Protest gegen Putin in 180 Städten zum Ausdruck brachten. Ein historisches Ereignis auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, „das es noch nie im post-sowjetischen Russland oder der UdSSR gegeben hat“.

Dennoch sollte man nicht vorschnell sagen, dass Europa nichts täte: in den letzten sieben Jahren wurden einige hohe Beamte mit Sanktionen belegt, so, wie es jetzt für die vier genannten Personen der Fall ist. Auch wirtschaftliche Sanktionen wurden in bestimmten Wirtschaftsbereichen ausgesprochen, wie im Finanzsektor, der Verteidigung oder auch der Energie. Aber was haben diese Sanktionen gebracht?

Finanzsektor: die Drohung, Russland den Zugang zum Bankensystem SWIFT zu sperren, hat die Entwicklung des nationalen Zahlkartensystems NSPK (Nationalnaya Systema Platyojnikh Kart) und der Bankkarte MIR beschleunigt. Diese Androhung von Sanktionen, die seit 2015 auf Initiative von Großbritannien wie ein Damoklesschwert über Wladimir Putin schwebte, hat zur Entwicklung eines Systems geführt, das zur Konkurrenz für SWIFT werden könnte, da inzwischen bereits zahlreiche Vereinbarungen mit Banken und dem Giganten der Telekommunikation Samsung geschlossen werden konnten, das sein elektronisches Zahlsystem „Samsung Pay“ mit einbringt.

Verteidigung: Der Kreml, der alles andere als geschwächt ist, hat einen enormen Erfolg im Bereich der Militärindustrie, wie man es seit der Sowjetzeit nicht mehr erlebt hatte. Das neue Jagdflugzeug Sukhoid Su-57 wurde auf den Markt gebracht, dessen Performance deutlich über der des Konkurrenten Lockheed Martin F-35 Lightning II liegt. Die Schutzausrüstung Sotnik, die als die leichteste der Welt gilt und Soldaten vor Geschossen bis Kaliber .50 schützt, sind dabei nur die aktuellsten Beispiele.

Energie: Laut Slava Rabinovich bringt das Projekt „Nord Stream II“ dem russischen Volk „keinerlei Vorteile, sondern ermöglicht, die Ukraine zu umgehen und somit abzustrafen, sowie die Entourage Putins zu bereichern, die ihre Leistungen deutlich über Marktpreisen fakturieren“. Das Thema liegt nun in den Händen der Europäer, die in dieser Situation aber vor allem ihre strategische Uneinigkeit an den Tag legen. Auf der einen Seite weigert sich Deutschland, seine Energieversorgung zu gefährden, auf der anderen Seite ruft Frankreich, europäischer Marktführer in der zivilen Atomenergie, zum Abbruch des Projekts auf. Natürlich ganz ohne eigene kommerzielle Hintergedanken…

Schlimmer noch, sagt der Mann, der sich als Freund von Alexej Nawalny bezeichnet und der eng mit dem verstorbenen Putin-Gegenspieler Boris Nemstov befreundet war, der unter Präsident Boris Jelzin Vize-Regierungschef mit dem Portefeuille Wirtschaft war und der am 27. Februar 2015 in der Nähe des Roten Platzes ermordet aufgefunden wurde – die Gegenmaßnahmen, die Wladimir Putin ergriffen hat, angefangen mit der Kürzung der agro-alimentären Importe aus Europa um die Hälfte, haben auf eine bestimmte Art und Weise Putins Macht noch gestärkt. Denn durch die somit ausgelösten Fehlmengen „waren diese Maßnahmen extrem profitabel für einige seiner Freunde, die bereits über ihre Firmen Fisch, Fleisch und Käse in geringerer Qualität als die Importwaren produzieren, die aber jetzt die einzigen auf dem Markt verfügbaren Produkte sind“. Die großen Gewinner: Die der Macht nahestehenden Oligarchen, die in dieser Situation neue Monopole errichten und somit ihr persönliches Vermögen steigern konnten, da die Preise dieser Produkte des täglichen Lebens durch die Decke schossen. Die großen Verlierer: Die russischen Durchschnittsbürger, für die sich der Preis bestimmter Grundnahrungsmittel „alleine im letzten Jahr verdoppelt hat“ – dabei waren es die Bürger, die nicht von den Sanktionen der EU getroffen werden sollten.

Die Effizienz der EU-Sanktionen gegen den Kreml: Diese Maßnahmen lösen bei Slava Rabinovich fast ein müdes Lächeln aus. Müde deshalb, weil er sieht, dass die Mini-Maßnahmen das ersetzen, was getan werden müsste, damit sich wirklich etwas ändern könnte. „Bereits 2014 habe ich gesagt, und ich sage es auch weiterhin, dass wenn die internationale Gemeinschaft mit den USA, Kanada, Australien, Großbritannien und der EU persönliche Sanktionen gegen die Freunde Putins ergreifen würde, und dabei nicht nur eine Handvoll Leute mit Sanktionen belegt, sondern 50 Personen pro Monat, dann wären am Ende des Jahres die Guthaben bei westlichen Banken von 600 Familien eingefroren. Und am Ende des zweiten Jahres wären es bereits 1200 und so weiter. Am Ende eines solchen Prozesses gäbe es bereits keinen Putin mehr im Kreml, denn es wäre zu einem Bruch zwischen den 10.000 Familien gekommen, deren wirtschaftliche Interessen mit denen des Regimes übereinstimmen“.

Natürlich spielt auch der Druck der Straße eine Rolle, „aber niemand kann sagen, wann und wie das ‚System Putin‘ fallen wird. Und wie der Mechanismus dieses Sturzes sein wird. Sie müssen verstehen, dass wenn Russland immer noch den Eindruck erweckt, ein Staat zu sein, so ist das Land in der Praxis keiner mehr: Wir haben keine Präsidentschaft mehr, keine Regierung, kein Parlament. Es gibt keine Gewaltenteilung mehr, ebenso wie es keine Unabhängigkeit der Medien oder eine Opposition gibt, denn eine offene Opposition gegen das Regime führt entweder ins Gefängnis oder ins Exil oder zu Morddrohungen“. Alles besteht nur noch aus Putins Marionetten, wobei Putin seine Stabilität durch die Unterstützung der großen Familien erhält, die paradoxerweise durch die EU-Sanktionen noch verstärkt wird.

Mit sorgenvoller Miene macht sich Slava Rabinovich keinerlei Illusionen über die Fähigkeit der Europäer, diese Realität zu verstehen, vor allem, wenn man die Uneinigkeit der Europäer in der russischen Frage betrachtet. Aber er ist von einer Maßnahme überzeugt, die er nicht müde wird zu wiederholen: Zwar kann niemand vorhersehen, wie es mit den Demonstrationen in Russland weitergeht, aber „diese 10.000 Familien mit Sanktionen zu belegen, ist der Schlüssel, das Putin-Regime zu Fall zu bringen“, was vielleicht zum Entstehen eines demokratischen Russlands führen könnte, was ein großer Wunsch der EU wäre.“

Olivier Védrine ist Professor (h.c.), Chefredakteur des The Russian Monitor, Direktor der New Europeans / Christophe Nonnenmacher ist Direktor des „Pôle européen d’administration publique de Strasbourg“ und Chefredakteur von Eutalk.eu / Gespräch geführt im Rahmen einer Reihe EuTalk -The Russian Monitor, von Kiew aus von Olivier Védrine geführt.

© EuTalk / ISSN 2116-1917 / Die von Slava Rabinovich getätigten Aussagen geben dessen persönliche Meinung wieder. Sie reflektieren ausschließlich die Meinung des Autors und keinesfalls eine Haltung der Institution, für die oder bei der er arbeitet.

EUTalk.eu ist ein europäisches Medium, das von Christophe Nonnenmacher geleitet wird, mit dem wir bereits vor Jahren auf Plattformen wie „europeus.org“ kooperiert haben. In den kommenden Wochen werden Eurojournalist(e) und EUTalk www.eutalk.eu ihre Zusammenarbeit strukturieren und regelmäßig Publikationen des jeweils anderen Partners übernehmen.

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