Frankreich befindet sich in einer Demokratie-Krise…

… und die einzigen, die das immer noch nicht merken, sind die Politiker aller Couleur. Die politische Lage in Frankreich wird immer explosiver.

Auch an diesem Sonntag bleiben die Wahlkabinen so leer wie am Sonntag zuvor... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY 2.0

(KL) – Nach den wichtigen Regional- und Departementswahlen in Frankreich, bei denen erneut zwei Drittel der Wählerschaft nicht zum Wählen gegangen ist, befindet sich das Land in einer schweren Demokratie-Krise. Dabei schockiert nicht nur der Anteil der Nichtwähler (über 65 %), sondern vor allem, dass 87 % der Altersklasse 18 bis 25 Jahre nicht wählen gegangen sind. Die Politik in Frankreich hat definitiv den Anschluss an die Bevölkerung verloren, was allerdings die handelnden Politiker am Wahlabend nicht davon abhielt, so zu reagieren wie immer. Die „Gewinner“ jubelten über ihre „Erfolge“, die Verlierer machten alles Mögliche für ihre Niederlagen verantwortlich, außer sich selbst. Wenn nun die Sozialkonflikte in Frankreich wieder aufflammen, die von der Pandemie nur unterbrochen waren, stehen Frankreich schwere Zeiten bevor. Doch diejenigen, die nun dringend reagieren müssten – reagieren nicht.

Eigentlich hatten viele Beobachter mit einer deutlich höheren Wahlbeteiligung bei diesem zweiten Wahlgang gerechnet. Doch auch der 27. Juni bestätigte den Trend vom ersten Wahlgang – die Franzosen mögen nicht mehr wählen gehen. Doch auch nach dieser doppelten Backpfeife für die gesamte politische Kaste Frankreichs ändert sich der politische Diskurs kaum, wie die abendlichen „Elefantenrunden“ auf den verschiedenen TV-Sendern deutlich zeigten. Für die Verlierer waren Gott, die Welt, die Wähler, das Wetter und die Pandemie verantwortlich, die Gewinner protzten dagegen, dass sie gewählt worden seien, weil sie so klasse sind. Dass viele Gewählte am Sonntag mit weniger als 10 % der eingetragenen Wähler in ihre Ämter gekommen sind, interessiert heute schon nicht mehr.

Doch Frankreich muss sich nun darüber klar werden, dass die Franzosen gerade das ganze politische System des Landes in Frage stellen. Dies betrifft sowohl das Wahlsystem in sich selbst, das ein purer Anachronismus und darauf ausgelegt ist, neue politische Kräfte möglichst weit von der „Macht“ entfernt zu halten, es betrifft aber auch die Parteien, die seit Jahrzehnten zu verknöcherten Seilschaften verkommen sind, unfähig, sich an das 21. Jahrhundert anzupassen und es betrifft auch die politischen Akteure selbst. Doch das will in den Chefetagen der Parteien, der Verwaltungen und der Pariser Ministerien niemand wahrhaben.

Dass man zum Thema dieser Wahlen und der „Abstrafung“ der Regierungsmitglieder keine Kommentare aus dem Präsidentenpalast hört, spricht Bände. Da setzen die Franzosen durch ihr Nichtwählen einen „demokratischen Notruf“ ab und Paris – hört ihn nicht. Stattdessen werden Umfragen von den regierungstreuen Medien veröffentlicht, nach denen Präsident Macron so beliebt wie lange nicht sei. Aha. Und weil er so beliebt ist, sind ausnahmslos alle seine Kandidaten mit Pauken und Trompeten durchgefallen?

Die französische Regierung hat noch ein Jahr, um sich selbst in ihrer Großartigkeit zu feiern, doch dann stehen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Doch ein Jahr reicht nicht, um die dringend erforderlichen Reformen auf so vielen Ebenen durchzuführen, geschweige denn, sie alleine nur anzugehen. Bis zum Wahltermin 2020 wird nicht viel mehr möglich sein, als wieder Versprechungen über Versprechungen zu machen, von denen inzwischen jeder weiß, dass sich nach den Wahlen niemand mehr daran erinnern wird.

Immerhin, verschiedene Trends zeichnen sich ab. Zum einen rücken die Franzosen wieder in die politische Mitte, zum anderen etablieren sich gerade die Grünen fest in der politischen Landschaft, dann ersteht gerade die Linke wieder wie ein Phoenix aus der Asche und last, but not least, wollen die Franzosen keine Rechtsextremen in verantwortungsvollen Positionen. Und – die Regierungspartei „La République en marche“ mit ihren Verbündeten wie „AGIR“ oder dem „MoDem“ hat in vier Jahren ihren Kredit bei den Franzosen verspielt.

Was heute angesagt wäre, sind nicht etwa neue und höchst zweifelhafte Allianzen, Parteiwechsel und Verrat auf allen Ebenen, sondern eine grundlegende Reform der Parteien, der Institutionen und des Zentralstaats. Ein umfangreiches Programm, das sicher nicht mehr im letzten Jahr der Amtszeit von Präsident Macron angegangen werden wird.

Frankreich stehen sehr unruhige politische Zeiten bevor und angesichts der verschiedenen, aktuellen Krisen, ist das keine gute Nachricht – weder für Frankreich, noch für Europa. Zu einem Zeitpunkt, wo Stabilität zum Management dieser Krisen erforderlich ist, stürzt Frankreich ins politische Niemandsland.

1 Kommentar zu Frankreich befindet sich in einer Demokratie-Krise…

  1. Demokratien sind dynamische Systeme. Sie werden konstituiert durch Institutionen, Verfahren, Organisationen und leben von der Mitwirkung der Burgerinnen und Burger. Alle Komponenten dieser Systeme sind interdependent und verandern sich uber die Zeit hinweg. Diese Veranderungen werden durch Anreizstrukturen und Problemanforderungen der au?eren Umwelt oder durch interessengeleitete Veranderungsstrategien relevanter okonomischer, gesellschaftlicher und politischer Akteure im Inneren der Demokratie ausgelost. Tempo und Umfang der Anpassungsprozesse werden im Wesentlichen von den relevanten Akteuren bestimmt. Regierungen und Parteien spielen dabei die Haupt-, Parlamente, Justiz und die Zivilgesellschaft eher die Nebenrollen. Passen sich die Institutionen und Verfahren des demokratischen Staates nicht den funktionalen Erfordernissen ihrer Umwelt an, drohen sie dysfunktional zu werden. Die Performanz der Regierung und des gesamten demokratischen Systems nimmt ab und damit auch der subjektive Legitimitatsglauben des Demos, der sich teilweise aus dem Output und Outcome demokratischer Entscheidungen nahrt. Aber die Evolution demokratischer Institutionen und Verfahren folgt nicht nur einem funktionalen Anreiz zur Aufrechterhaltung der Leistungsfahigkeit eines demokratischen Systems. Auch im Inneren verandern sich gesellschaftliche Werte, Prioritaten und Weltsichten und fordern die Adaptionsfahigkeit demokratischer Systeme heraus. Die Demokratiefahigkeit der Partizipations- und Entscheidungsverfahren bemisst sich vor allem auch daran, inwiefern sie diese soziokulturellen Veranderungen wahrnehmen, politisch zulassen und auf ihre Demokratietauglichkeit prufen. Die gestiegene Sensibilitat gegenuber Gleichheitsfragen der Geschlechter, Ethnien und sexuellen Praferenzen seit den 19r und 19r Jahren zeigen diese Adaptionsfahigkeit in den meisten fortgeschrittenen Demokratien der OECD-Welt. Externe wie interne Herausforderungen der Demokratie testen also nicht nur die Wandlungsfahigkeit demokratischer Systeme, sondern sind eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung fur die gebotene Weiterentwicklung der Demokratie in einer sich rasch wandelnden (Um-)Welt. Herausforderungen der Demokratie sind von Krisenursachen zu unterscheiden. Externe Herausforderungen wie die neoliberale Globalisierung der Finanzmarkte, die Supranationalisierung politischer Entscheidungen, die wachsende soziookonomische Ungleichheit oder interne Herausforderungen wie der Niedergang der Volksparteien und der Machtverlust der Parlamente werden erst zu Krisenerscheinungen, wenn das politische System keine funktionalen und normativen Aquivalente entwickelt, die die entstandenen Dysfunktionalitaten und normativen Defizite kompensieren konnen.

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