Kaliningrad – Berlin: 1 Minute und 46 Sekunden

Die russische Propaganda wird immer martialischer. Im Staatsfernsehen Rossiya 1 wird bereits die Zeit berechnet, die eine russische Atomrakete des Typs „Sarmat“ in die europïschen Hauptstädte braucht.

Von der Basis Kaliningrad braucht eine atomar bestückte Sarmat-Rakete 1 Minute und 46 Sekunden nach Berlin. Foto: Mil.ru / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Berlin 1:46 Minuten, Paris 3:20 Minuten, London 3:22 Minuten. So lange braucht eine russische Atomrakete des Typs „Sarmat“ von ihrer Basis im russischen Kaliningrad in diese drei Hauptstädte, wie das russische Staatsfernsehen Rossiya 1 stolz in der Sendung „60 Minuten“ verkündete. Ein „Experte“ kommentierte diese Information mit: „Eine Sarmat und Großbritannien existiert nicht mehr“. Aber so lange unsere „Experten“ die Ansicht vertreten, dass Putin auf den Einsatz solcher Waffen verzichten würde, ist ja alles in Ordnung.

Allerdings wäre es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass eine Kriegspartei aus ethischen oder sonstigen Gründen darauf verzichten würde, eine kriegsentscheidende Waffe einzusetzen. Doch wenn unsere „Experten“ trotz aller Ansagen aus dem Kreml weiterhin meinen, dass Putin es dann doch nicht so ernst meint, kann ja nichts passieren. Und sollte doch etwas passieren, wird niemand mehr dasein, der diese „Experten“ fragen kann, wie sie eigentlich zu einer solchen Fehleinschätzung kommen konnten.

Die russischen Medien, aber auch die russische Politik, stimmen das russische Volk momentan massiv auf den III. Weltkrieg ein. Dieser Begriff wird, anders als der Ukraine-Krieg, in den russischen Medien auch verwendet. Doch wenn Außenminister Lawrow erklärt „die Gefahr ist gegeben, sie ist reel, man sollte sie nicht unterschätzen“, dann könnte man das ja auch einfach mal ernstnehmen, statt durch die westliche Brille zu behaupten, dass Putin so etwas nie machen würde.

Mit jeder militärischen Niederlage, mit jedem nicht erreichten Ziel, wächst die Gefahr einer maximalen Eskalation dieses Kriegs. Es ist mehr als blauäugig zu glauben, dass Putin angesichts seiner im ukrainischen Schlamm steckenbleibenden Panzer und des massiven Widerstands der Ukrainer eines Tages klein beigibt, sich vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag begibt und den Rest seiner Tage in einer Gefängniszelle verbringt wie Slobodan Milosevic. Je schwieriger die Lage für Putin wird, desto näher bewegt sich sein Finger hin zum Roten Knopf.

Kann gar nicht passieren, tröten die westlichen „Experten“. Denn, so die Ansage, Putin kann ja gar nicht alleine einen Atomschlag initiieren. Stimmt, dazu braucht er seine beiden Spießgesellen, General Vitali Gerassimov und Verteidigungsminister Sergeij Schoigu. Und da wird es bereits kompliziert. Die Ukraine hat den Tod von Gerassimov verkündet, Moskau hat das dementiert. Schoigu war plötzlich zwei Wochen lang von der Bildfläche verschwunden (was für den Verteidigungsminister mitten im Krieg ziemlich ungewöhnlich ist) und über den Verbleib oder alleine die Frage, ob Gerassimov überhaupt noch lebt, gibt es keine schlüssigen Informationen.

Es ist naiv zu glauben, dass Putin keine Vorsorge getroffen hat und nicht in der Lage wäre, zwei seiner Kumpane, sei es mit einer Pistole an der Schläfe, dazu zu zwingen, gleichzeitig mit ihm den Roten Knopf zu drücken. Auch die westliche Hoffnung, dass sich im russischen Generalstab ein verkappter Held befindet, der Putin im richtigen Moment eine Kugel in den Kopf schießt, ist höchst unwahrscheinlich. Gäbe es diesen Helden, hätte er bereits agiert. Dazu denken wir, weiterhin durch unsere westliche Brille, dass die Russen alle einen zähneknirschenden Hass auf Putin hegen, sich aber aufgrund der Unterdrückung nicht trauen, dies kundzutun. Das ist nicht mehr als westliches Wunschdenken, die Realität sieht anders aus.

Auf beiden Seiten, in Russland wie im Westen, läuft die Propaganda-Maschine auf Hochtouren. Wie wirksam das ist, erkennt man daran, dass die Bevölkerung in Russland gerade auf den III. Weltkrieg eingeschworen wird und dass sich in Deutschland ausgerechnet die aus der Friedensbewegung (!) entstandene Partei Bündnis90/Die Grünen zu den schärfsten Kriegstreibern im Land entwickelt hat.

Man sollte die Zeichen der Zeit erkennen und das weitere Vorgehen nicht unbedingt darauf stützen, wie wir die Entwicklung gerne hätten, sondern darauf, wie die Situation ist. Und diese Situation ist katastrophal, insbesondere dadurch, dass an jeder denkbaren Stelle die Eskalation rapide weiter betrieben wird.

Müssen wir uns am Ende etwa mit dem Gedanken trösten, dass wenn eine Sarmat-Rakete auf Europa abgefeuert wird, alles so schnell gehen wird, dass wir nicht einmal dafür Zeit haben werden, uns viele Gedanken zu machen? Wenn Russland offen vom III. Weltkrieg spricht und das nukleare Arsenal des Landes in Stellung gebracht wird, ist die Analyse unserer „Experten“ („Das macht der nieee!“) vielleicht doch etwas dünn.

1 Kommentar zu Kaliningrad – Berlin: 1 Minute und 46 Sekunden

  1. Ein diktatorisches Regime greift ein demokratisches Nachbarland unter Nichteinhaltung aller humanitären Regeln ohne Grund barbarisch an.

    Und nu? Sanktionieren? Hinfahren und Bedauern äussern? Eingreifen und zurückschlagen? Waffen liefern? Den EMMA Pazifismus unterstützen? Die Augen schliessen und hoffen, dass es nicht schlimmer kommt?

    Herr Littmann, wer weiss es besser? Wer bietet im alltäglichen Pressegeschreibse mehr? Ich habe keine Idee..

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